Zur Lage der Meinungsfreiheit im Iran
.
.
“Khamenei, du Zahhak, dich bringen wir unter die Erde.” (Sedipeh Qolian)”
Das Bild beschreibt die gesamte Dramatik der Gegenwart, der Geschichte und wahrscheinlich auch die der Zukunft. Es ist selbst inzwischen ein geschichtliches Dokument über den iranischen Frauenwiderstand, das in Windeseile in der virtuellen Welt viral ging.
Wir schreiben den Nachmittag des 15. März 2023. Vor dem berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis lächelt die gerade freigelassene Sepideh Qolian strahlend. In einer Hand hält sie einen großen Blumenstrauß, den ihre Eltern als Begrüßung mitgebracht hatten; die andere Hand hält sie an ihr Ohr und ruft den reimenden Slogan:” خامنه ای ضحاک ، میکشیمت زیر خاک”: „Khamenei, Du Zahhak, Dich bringen wir unter die Erde.“
Was für ein Mut, welche Beharrlichkeit, Unerschrockenheit.
Zahhak ist jedem Iraner und jeder Iranerin als Prototyp jeglicher Tyrannei geläufig. Beschrieben wurde er vom Nationaldichter Ferdowsi vor 1200 Jahren in „شاهنامه“, dem „Buch der Könige“. Grausam ist die Geschichte, wie der Tyrann sich am Leben hält. Er litt an einer unheilbaren Krankheit, ihm waren auf den Schultern zwei Schlangen gewachsen. Alle Versuche, die Schlangen zu töten, scheitern, sie wachsen immer wieder nach. Bis man ihm sagte, es gebe nur einen Ausweg, sich vor den Schlangen zu schützen, nämlich indem man sie täglich mit menschlichen Gehirnen zweier Jünglinge füttert, anderenfalls würden sie sein Gehirn fressen. Grausam mussten deshalb jahrzehntelang Tausende junger Menschen sterben.Dieser Block e
Zahhak stammte aus Arabien und die Saga nimmt mit dem Sieg seines Rivalen — natürlich eines waschechten persischen Prinzen — schließlich ein glückliches Ende. Das „Buch der Könige“ mit seinen 30.000 Versen hatte in der Geschichte des Iran mit Sicherheit eine sprachbildende Kraft. Es trug mit Sicherheit viel dazu bei, dass die Iraner heute Persisch und nicht wie andere islamisierte Völker Arabisch sprechen.
Es ist keineswegs Zufall, dass Sepideh an diesem sonnigen Märznachmittag vor dem Evin-Gefängnis den mächtigsten Mann Irans mit Zahhak vergleicht. Und sie weiß, dass sie höchstwahrscheinlich wieder sofort hinter jene Mauer verschwinden muss, wo sie sieben Jahre lang war.
Die Veterinärin, die in diesen langen Jahren der Gefangenschaft auch Jura zu studieren versuchte, steht an diesem Tag kurz vor ihrem 29. Geburtstag.
Als Bürgerjournalistin begleitete sie während ihres Studiums kontinuierlich Arbeiterproteste der Sugarcane Agro Industrial Company (persisch: شرکت نیشکر هفتتپه) in der Nähe ihrer Heimatstadt, Dezful, im Westen Irans.
Zum ersten Mal wurde sie gemeinsam mit einem Dutzend Gewerkschafter verhaftet ohne Anklage oder Rechtsbeistand, schließlich kam sie nach 30 Tagen vorübergehend gegen eine Kaution frei, mehrere gefolterte Gewerkschafter landeten im Krankenhaus.
Diese Zuckerfabrik ist in der islamischen Republik ein Paradebeispiel für die gescheiterte Wirtschaftspolitik der Mächtigen, ebenso wie für die grassierende Korruption.
Dreizehn Jahre vor der Revolution war diese Fabrik gegründet worden, sie wurde bald zu einem modernen Industriekomplex des Nahen Ostens. Nach der Revolution wurde sie erst konfisziert, vernachlässigt und schließlich 2015 privatisiert. Die Welle der sog. Privatisierungen, die zu dieser Zeit das ganze Land erfasst hatte, war nicht anders als die Verteilung der großen Filetstücke der konfiszierten Industrie unter den einflussreichen Mächtigen, hauptsächlich unter den Kommandeuren der Revolutionsgarden.
Die neuen Besitzer vernachlässigten die Betriebe, denn sie waren nur an preiswerte Grundstücke der Anlagen interessiert und nicht an Produktionssteigerung.
Nach ihrer Freilassung beschrieb Sepideh gegenüber den Journalisten, wie sie und andere Arbeiter gefoltert worden seien. Der Amnesty International erzählte sie minutiös die Folterungen, die sie bei der Polizei und dem Geheimdienstministerium erlitten hatte, wie sie geschlagen, gegen Wände geschleudert, zu Boden gestoßen, mit Auspeitschungen gedemütigt und mit sexuellen Übergriffen bzw. Mord bedroht worden sei. Während ihrer Haft strahlte das staatliche Fernsehen eine Sendung aus, in der Sepideh und andere inhaftierte Arbeiter ihre Verbrechen gegen den Staat gestehen. Unmittelbar danach antwortete sie auf Twitter, allein diese Sendung an sich sei ein weiterer Beweis für Folter. Sie kam nach drei Jahren frei, um wenige Monate später wieder verhaftet zu werden.
Als sie an diesem 15. März 2023 nach vier Jahren und zwei Monaten aus dem Evin-Gefängnis in Teheran entlassen wird, stehen Dutzende Aktivisten mit Blumensträußen da und filmen, wie Sepideh das Gefängnistor hinter sich lässt. Unerschrocken ruft Sepideh ihren Slogan gegen Khamenei, die ganze Szene wird gefilmt und sofort in die virtuelle Welt gesetzt. Wenige Stunden später überfällt ein Kommandotrupp der Revolutionsgarden das Auto, das sie und ihre Mutter nach Hause bringen sollte. Erneut befindet sich Sepideh dort, wo sie die besten Jahre ihres jungen Lebens verbracht hat.
Was momentan mit ihr dort geschieht, das kann man nur erahnen.
Über ihre eigenen Erlebnisse hinter diesen Mauern und alles, was ihre Leidensgenossinnen in den Verliesen erlebt hatten, schrieb Sepideh ein bewegendes Buch.
Sepideh ist vor allem von einer Persönlichkeit beeindruckt, von der sie in ihrem Buch und bei vielen Interviews oft mit Achtung und Bewunderung spricht. Es handelt sich um die 42-jährige Bahareh Hedayat.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist die Initiatorin der Kampagne „Eine Millionen Unterschriften“. Mit dieser Initiative wollte sie alle Gesetze verändern, die die iranischen Frauen diskriminieren.
Seit 16 Jahren ist sie mit kurzzeitigen Unterbrechungen im Gefängnis.
Und jedes Mal, wenn sie kurzfristig freigelassen wurde, zeigte sie, dass sie sich durch willkürliche Haftstrafen nicht einschüchtern lässt, sie wurde wieder bei irgendeinem Protest aktiv. Bahareh ist für ihren Mut ebenso bekannt, wie für ihren Scharfsinn. Zuletzt beteiligte sie sich im April 2014 an Studentenproteste gegen den Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine durch die Revolutionsgarden. 300 Menschen, hauptsächlich iranische Studenten und Akademiker, die im Ausland lebten, waren dabei ums Leben gekommen.
Aus dem Gefängnis meldet sich Bahareh regelmäßig mit literarischen Essays, Gesellschaftsanalysen und genauen Beschreibungen der Verhältnisse in den iranischen Gefängnissen.
Während ihrer Haft übersetzte sie Dave Eggers Buch „The Circle“ und David Mitchells „Cloud Atlas“ auf Papierstücke, die sie gerade in ihrer Zelle finden konnte.
Aus dem Gefängnis meldete sich Bahareh am 20. März 2023 mit einer Gratulation zum neuen persischen Jahr und blickte zurück auf das vergangene, als ein Wendejahr der iranischen Geschichte.
Proteste gegen die Willkür der Herrschenden habe es in den letzten 40 Jahren zuhauf gegeben, schreibt sie und bezeichnet das neue Jahr als ein Schicksalsjahr. Mit dem bewundernswerten Frauenaufstand, der das Land nach der Ermordung der kurdischen Studentin Mahsa Amini erfasste, beginne der Anfang vom Ende der Islamischen Republik, so Bahareh weiter.
Durch diese größte Machtkrise der Herrschenden, erfuhr auch die breite Öffentlichkeit im Ausland, dass es einen anderen Iran gäbe als jenen, den man bis dahin kannte, so Bahareh weiter.
Tatsächlich wurde die Weltöffentlichkeit mit Bewunderung Zeuge, wie eine junge, vor allem weibliche Generation mit dem Ruf „Leben, Frau, Freiheit“, sich mutig und kreativ den Schikanen einer brutalen, religiösen Macht widersetzt. Hunderte wurden getötet, Zehntausende verhaftet, mindestens 580 Demonstranten verloren nach einem Bericht der New York Times ihr Augenlicht.
Die Betroffenen berichteten den Reportern, Sicherheitskräfte hätten absichtlich auf ihre Augen gezielt.
Eine von ihnen ist die Allgemein-Medizinerin Elaheh Tawakkolian.
Nach ihrem Dienstende im Krankenhaus geht sie an einem Novembertag in Teheran auf die Straße, schließt sich den Demonstranten an, die vermummten Truppen zielen mit Schrotflinten auf die Oberkörper der Protestierenden.
Elaheh verliert ihr linkes Auge. Nach fast vier Monaten lässt sie sich am 23. März 2023 in einem Mailänder Krankenhaus die Kugel aus ihrem Auge herausoperieren. Vor und nach der Operation sendet sie auf ihrem Instragram-Account Fotos von sich, mit der Bemerkung, sie werde die herausoperierte Kugel als einen ewigen Beweis für die Feindseligkeit des schiitischen Klerus gegen die Frauen aufbewahren.
Nach monatelanger massiver Repression verkündete das Regime, zwanzigtausend Gefangene der letzten Unruhen seien von Ali Khamenei begnadigt worden. Doch diese Meldung erwies sich später als reine Propaganda.
Der beste Beweis ist das Schicksal zweier Journalistinnen, die seit dem Tod von Mahsa Amini am 20. September inhaftiert sind.
Elahe Mohammadi war die erste Journalistin, die nach der Einlieferung von Mahsa Amini bei ihr im Krankenhaus war. Sie machte das berühmte Foto von der sterbenden jungen Frau, die von der Sittenpolizei ermordet worden war. Ihre Kollegin Nilufar Hamedi hatte über Mahsas bewegende Beerdigung in ihrer Heimatstadt berichtet. Beide sitzen seitdem ohne Anklage in Einzelhaft, niemand durfte sie bis jetzt besuchen, auf Webseiten, die den Revolutionsgarden nahestehen, wird von Spionagetätigkeit und ausländischen Aufträgen schwadroniert.
Diese Journalistinnen waren im Auftrag ihrer Redaktionen unterwegs.
.
Konsequenzen einer Unterschrift
Am 24. März meldeten die iranischen Medien, Fatemeh Sepehri sei zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Fatemehs Lebensgeschichte liest sich wie ein Lehrbuch über die Islamische Republik.
Sie kommt 1964 in Mashhad in einer traditionellen, armen Familie zur Welt: Fatemeh, die niemals gegen die islamische Kleiderordnung verstoßen hat, konnte aufgrund ihrer familiären Verhältnisse nicht studieren. Sie ist eine Selfmadefrau: Im Alter von 40 Jahren bestand sie die Uni-Aufnahmeprüfung und erlangte einen Bachelor-Abschluss in Betriebswirtschaft an der Ferdowsi-Universität in Mashhad.
Mit ihrem Bruder Mohammad Hossein gehört sie zu den Unterzeichnern einer Erklärung von 14 politischen Aktivistinnen und Aktivisten, die den Rücktritt von Ali Khamenei von seinem Posten als Oberster Führer der Islamischen Republik fordern. Später tritt sie offen für die Abschaffung der Islamischen Republik auf und fordert die Errichtung eines demokratisch-säkularen Staats.
Fatemeh trat in ihren Interviews vor ihrer Verhaftung immer mit Tschador auf, zeigte nie ihre Haare. Das hat ihr nicht genutzt. Weitere 18 Jahre ihres Lebens wird sie wegen ihrer Unterschrift und ihrer Beharrlichkeit im Gefängnis verbringen müssen.
Es waren nur einige Beispiele von Tausenden. Wollte man alle Schicksale jener Opfer beschreiben, die in der 40-jährigen Geschichte der Islamischen Republik gefoltert, ermordet worden sind oder ihre besten Lebensjahre in den dunklen Verliesen verbringen mussten, entstünden mit Sicherheit dicke Wälzer.