Wie das Internet auch die Meinungsfreiheit einschränken kann – ein Blick nach China
Seit Jahrzehnten berichten westliche Medien über Menschenrechtsverletzungen in China. Die Unterdrückung von Minderheiten in Tibet und Xinjiang, die Verfolgung der Falun Gong, aber auch die Einschränkung der Presse– und Meinungsfreiheit stehen zurecht immer wieder im Fokus. 2016 brachte Präsident Xi Jinping dies bei einem Besuch der staatlichen „Volkszeitung“ auf den Punkt als er sagte, alle Medien in China sollten „mit Familiennamen „Partei“ heißen“ und sich ausnahmslos „am Willen, an den Ansichten, an der Autorität und an der Einheit der Kommunistischen Partei“ orientieren.
Zwei Jahre später erwirkte eben jener Xi Jinping, dass das Maximum von zwei Amtsperioden für den Präsidenten aus der Verfassung gestrichen wurde. Damit hatte Xi seine uneingeschränkte Herrschaft auf Lebenszeit gesichert.
Es ist wahr, dass es kaum hörbaren Protest gegen diesen Schritt des Präsidenten gab. Doch dies bedeutet nicht, dass die Verfassungsänderung auf ungeteilte Zustimmung stieß. Wenige Tage bevor der Schritt öffentlich wurde, hatte der Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng einen Alternativvorschlag veröffentlicht. Er wurde umgehend inhaftiert. Ein weniger bekanntes Beispiel ist die Pekinger Bürgerin Zhao Xiaoli, die nur einen Tag nach Bekanntwerden der Verfassungsänderung schrieb:
„Seit zwanzig Jahren habe ich gelernt mich zu schützen, wenn ich meine Meinung ausdrücke. Aber unser Verstecken hinter Metaphern, hinter zweideutiger Sprache, hinter Schweigen, hinter verstohlenen Blicken – all das hat uns weder Stärke noch neue Räume geschaffen. Aber im Gegenzug für unser Schweigen haben die Herrschenden nur die Macht des Volkes mit Füßen getreten. Für unser Schweigen haben wir nur die Gier nach Macht von Diktatoren und Autokraten bekommen.
Ich habe Angst. Wenn ich mich äußere, habe ich die Angst den Preis dafür zu zahlen. Wenn ich nicht spreche, dann habe ich Angst den Rest meines Lebens in Scham und Schmerz zu verbringen. Weil es unerträglich ist, nein, weil es das äußerste Extrem des Unerträglichen ist, werde ich nicht länger schweigen. Ich werde keine Satire daraus machen und keinen Sarkasmus nutzen. Ich will mein Recht als Bürgerin der Volksrepublik China wahrnehmen. Ich sage öffentlich, dass ich gegen den „Vorschlag des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas hinsichtlich der Änderung der Verfassung“ bin. Ich bin gegen die Streichung der Amtszeitbegrenzung für Präsident und Vizepräsident der Volksrepublik China. Diese Verfassungsänderung wäre ein Mittel von Diktatoren, um die Macht zu ergreifen. Es wäre ein Rückschritt für mein Land, ein Verrat an den Idealen der seit einhundert Jahren währenden Revolution. Der soziale Vertrag und die bürgerlichen Rechte werden mit Füßen getreten.
Das ist meine Meinung. Ich weiß, dass viele Menschen sie teilen, aber wir wurden vereinzelt, abgelenkt, uneinig… seit so langer Zeit. Wir waren so lange klein und schwach und so lange gefangen in Metaphern.“
Dieser Eintrag ist sehr mutig. Er deutet zudem an, dass es vor nicht allzu langer Zeit Möglichkeiten der Meinungsäußerung in China gab, wenn auch zumeist nur in Metaphern, in zweideutigen Begriffen. Das Medium dieser Debatten war das chinesische Äquivalent zu Twitter: Weibo.
In öffentlichen, halböffentlichen und geschlossenen Chats entwickelte sich Weibo ab 2009 in kürzester Zeit zu einem Sprachrohr für hunderte Millionen von chinesischen Internetnutzer*innen. Wenn die chinesische Zensur einen Begriff auf den Index setzte, dann wurde er einfach durch einen ähnlich lautenden Begriff ersetzt. Selbst über die Zensur konnten die Chines*innen spotten: Im Jargon der Kommunistischen Partei wird bei Zensur von der Herstellung von „Harmonie“ gesprochen. Das chinesische Wort für „Flusskrebs“ klingt ähnlich wie „Harmonie“. Und so sprachen bald viele Kritiker*innen von den „Flusskrebsen“, wenn sie über Zensur klagten. Damals, vor nicht einmal zehn Jahren, schien sich zu bewahrheiten, was der frühere US-Präsident im März 2000, angesprochen auf chinesische Bestrebungen das Internet zu kontrollieren, gesagt hatte: „Viel Glück. Dies ist, als wollte man Wackelpudding an die Wand nageln.“
Im Sommer 2016, als die Freiheiten schon wieder massiv eingeschränkt waren, saß ich mit einem Beamten der Cyberbehörde Chinas in der Pekinger Nachmittagssonne. Rückblickend sagte er, dass niemand glaubte, die Kritik jemals wieder einfangen zu können. Aber als Xi Jinping an die Macht kam, entwickelte sich die Grundhaltung: Wir müssen es versuchen! Wenn diese „Rettungsaktion“, wie er sie wörtlich nannte, nicht funktioniert, dann war Xi der letzte Präsident der Kommunistischen Partei in China. Hintergrund der Sorgen der Herrschenden war nicht zuletzt die Rolle der sozialen Medien bei den Aufständen des Arabischen Frühlings 2011. Und so beschlossen die Machthaber drei Schritte:
Stufe 1:
2013 ernannte Xi Jinping Lu Wei zum Vorsitzenden der Zentralen Führungsgruppe für das Cyberspace. Als erstes führte Lu die Klarnamenregistrierung ein. Anbieter von sozialen Medien und Dienstleistungen mussten ihre Kund*innen mit ihrem echten Namen und ihrer Handynummer registrieren. Zunächst wurden sie gezwungen die Informationen auf Anfrage mit den Behörden zu teilen. Später entsandte die Cyberbehörde gleich selbst ihre Mitarbeiter in die größten chinesischen Techfirmen.
Stufe 2:
Als nächstes verschärfte Lu ein bereits zuvor praktiziertes Prinzip: er machte die Anbieter der Internetplattformen verantwortlich für den Inhalt, der auf ihren Plattformen veröffentlicht wurde. Zugleich gab seine Behörde nur vage Anweisungen. Die Plattformen reagierten mit Selbstzensur. Sie legten die Anweisungen der Cyberbehörde so aus, dass sie möglichst nicht belangt werden konnten.
Stufe 3:
Und schließlich ließ Lu Wei eine Reihe an chinesischen Prominenten für das Verbreiten von „Gerüchten“ verhaften. Der Sinn war schnell erfasst: Es sollten abschreckende Beispiele geschaffen werden. Dies war nicht nur breitenwirksam, sondern die Behörden knüpften auch an eine aus ihrer Sicht bewährte Praxis an: Zensiert wird nicht unbedingt, was kritisch ist, sondern das, was vielfach gelesen ist. Die gleiche Aussage kann in einem Fall unbeachtet im Netz bleiben und in einem anderen Fall zu einer Verhaftung führen, wenn sie von vielen gelesen oder gar noch geteilt wird.
In Lus ersten zwei Jahren im Amt wurden 15.000 Internetnutzer*innen für Vergehen im Netz verhaftet. Später aber kam auch für Lu das jähe Ende seiner Karriere: Wegen Korruption wurde er zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Doch da hatte die Partei das Internet schon unter ihre Kontrolle gebracht.
Auch vor Lu Wei war das Internet in China bereits massiv eingeschränkt. Die „Great Firewall” unterbindet beispielsweise den Zugriff auf eine Reihe ausländischer Internetseiten. Über sogenannte virtuelle private Netzwerke (VPNs) gibt es zwar die Möglichkeit diese Seiten dennoch aufzurufen. Doch werden diese VPNs erstaunlich wenig genutzt, wie mir der Beamte der Cyberbehörde erzählte. Intern spreche man von der „90/10 Regel“: 90% der Internetnutzer*innen haben einen VPN Klienten und wissen, wie man ihn nutzt. Aber nur 10% machen davon regelmäßig Gebrauch. Der Grund ist einfach: Die meisten Chines*innen sehen keinen Anlass. Sie vertrauen weder den chinesischen noch den westlichen Medien, nicht zuletzt auch deshalb, weil letztere sich häufig auf negative Entwicklungen in China konzentrieren, die die kleine Opposition im Land betreffen, nicht aber mit den Alltagserfahrungen der großen Mehrheit der Menschen korrespondiert.
Doch es waren nicht nur diese Maßnahmen, die der Partei halfen das Internet wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn bei aller Kritik gelang es der Partei, ihr Handeln als Vertrauen stiftende Maßnahme zu verkaufen. Seit Jahren hatten weite Teile der chinesischen Bevölkerung das Gefühl ein Verfall von gesellschaftlicher Moral zu erleben. Sinnbildlich wurde ein Video aus Südchina, auf dem zu sehen ist, wie ein Auto ein Kind anfährt, dieses verletzt liegen bleibt und anschließend Dutzende vorbeigehen – ohne zu helfen. Ein anderes Beispiel, das viral ging, handelt von einem alten Mann, der sich beim Aussteigen aus dem Bus verletzte. Ein Passant half dem alten Mann, brachte ihn ins Krankenhaus, wartete die Untersuchungsergebnisse ab und brachte ihn schließlich nach Hause. Wenige Tage später zeigte ihn der alte Mann an und behauptete, der Passant habe ihn geschupst und damit die Verletzung verursacht. Zum Entsetzen der Internetgemeinde wurde der Passant in erster Instanz schuldig gesprochen. Die Begründung: Dass er im Krankenhaus gewartet habe, sei Beleg für seine Schuldgefühle.
Im Zuge der rapiden Digitalisierung und einem empfundenen Erodieren traditioneller Moral versprach der Staat mit mehr Kontrolle, auch durch digitale Medien, wieder Ordnung herzustellen. Und die Bevölkerung? Sie glaubte es in weiten Teilen. So schrieb die Frauenrechtsaktivistin Xiao Meili einmal auf Weibo:
„Es werden auch Social media Accounts gelöscht, die nur Witze und Gossip verbreiten. Es gibt viele Vermutungen, aber niemand kennt die Gründe dafür. Vielleicht weiß noch nicht einmal dieser große Apparat selbst, der in sich nicht einig ist, was die Gründe sind. Aber was wir sicher wissen ist, dass diese Maschine zunehmend tun kann, was sie will. Das Monster wächst. Es gibt Menschen, die haben mir Kommentare geschickt wie diese: „Warum versuchen sie nicht andere Menschen einzuschüchtern? Warum belästigen sie nur dich? Was ist das Problem mit dir?“ Und ich verstehe sie: Menschen, die in einer Umgebung leben, in der Widerstand nicht erlaubt ist, glauben sehr leicht an das, was ihnen die Mächtigen sagen. Wie sollten sie sonst mit ihrer Situation fertig werden?! Es braucht Mut die Wahrheiten der Welt, in der wir leben, zu akzeptieren.“
Der langjährige Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Kai Strittmatter, berichtet ganz ähnlich:
„Diesen Gedanken hörte ich öfter. „Die wahren Pechvögel in diesem System sind die, die es durchschaut haben,“ sagte mir eine Pekinger Lehrerin. „Am besten, du bleibst einer von denen, die durcheinander und benebelt durchs Leben gehen, dann bist du auf der sicheren Seite.“ Und der Künstler Ai Weiwei schrieb einmal auf Twitter: „Sobald du versuchst dein Vaterland zu verstehen, hast du dich schon auf den Pfad des Verbrechens begeben.“ Den selbstmörderischen Weg der Bürgerrechtsanwälte und Dissidenten zu gehen ist nur wenigen gegeben, den anderen macht die Erkenntnis das Leben in der Lüge nur qualvoller.“
Die Coronapandemie hat die Lage in China nur noch verschlimmert. Jetzt sind es nicht nur moralische Sorgen, sondern auch gesundheitliche, die in der breiten Bevölkerung zu einem Ruf nach staatlicher Kontrolle führen.
Als Xi Jinping 2012/2013 an die Macht kam, galt China bereits als unfrei. Die amerikanische NGO „Freedom House“ misst jedes Jahr den Grat der Freiheit auf der ganzen Welt und quantifiziert ihn auf einer Skala von 0 bis 100. Als Xi Präsident wurde, lag Chinas Wertung bei „17“, wobei 100 das größte Ausmaß an Freiheit bedeutet. Schon damals war die Freiheit also gering. Heute, keine zehn Jahre später, ist der Wert auf „9“ gesunken. Auf niedrigem Niveau hat sich die Freiheit in China unter Xi noch einmal fast halbiert. Was das Handeln von Xi Jinping und Lu Wei aber auch zeigt, ist, dass die mächtigste Autokratie der Welt bis heute die Kraft des Wortes, der freien Rede fürchtet. Die Pekingerin Zhao Xiaoli schreibt:
„Selbst wenn man nichts verändern kann, haben Wörter Macht. Gesprochene Wörter sind viel mächtiger als geheime Meinungen. Worte, die öffentlich werden, sind so viel einflussreicher als geflüsterte Unterhaltungen. Explizite Opposition ist viel kraftvoller als die Metapher. Wenn du auch glaubst, dass dies ein kritischer und verzweifelter Moment ist, dann gib nicht die Kraft der Wörter auf. Warte nicht auf den Tag, an dem wir Worte nicht mehr benutzen können.“