Die KZ-Außenstelle Walldorf
Die folgenden Texte sind Teile des Historischen Lehrpfads, der rund um das Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers in Walldorf angelegt ist.
Verdrängen, vergessen, erinnern
Ende März 1945 kamen US-amerikanische Militäreinheiten nach Walldorf. Der Krieg war zu Ende. Der 1933 des Amtes enthobene sozialdemokratische Bürgermeister Adam Jourdan wurde nun wieder eingesetzt.
Das „normale Leben” begann für die Bevölkerung wieder. Zu dieser „Normalität“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft gehörte ein enormer Tatendrang — Wiederaufbau, Abriss und Neuaufbau. Tausende von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen kamen in die Städte und Gemeinden. Sehnsüchtig wartete man auf die Rückkehr der Soldaten — der Väter, Brüder und Ehemänner.
Zu dieser „Normalität“ gehörte es aber auch, dass man sich wenig Zeit nahm, um über die zwölfjährige Nazifizierung von Staat und Gesellschaft nachzudenken. Die Bedeutung der vielen hundert KZ Außenstellen, die es im ganzen Reich gegeben hatte, fand bis weit in die 1970er Jahre hinein allgemein keine Beachtung.
Hunderttausende von Menschen hatten in diesen Lagern über Monate und Jahre hinweg Zwangsarbeit für die deutsche Wirtschaft und den deutschen Staat geleistet.
Anfragen der Ausländersuchdienste, die in den 1940er und frühen 50er Jahren an alle Rathäuser gerichtet waren, wurden beantwortet, aber nicht weiter hinterfragt. So schrieb man 1951 in Walldorf, ein solches Lager habe hier unter der Verwaltung der SS bestanden. Die darin inhaftierten jüdischen Frauen seien von einem flughafeneigenen Gleis am 24. November 1944 abtransportiert worden. Wer diese Frauen waren und wohin sie gekommen seien, wisse man nicht, da das Lager nicht direkt zum Kommunalbereich gehört habe. Damit schien der Fall „erledigt“.
Das Lagergelände wurde in den 1950er Jahren neu aufgeforstet. Das Wissen über die historische Bedeutung dieses Ortes verschwand.
Um 1970 kam Zsuzsanna F., eine ehemalige Inhaftierte des Lagers, zum Rathaus und fragte die Beschäftigten, wo denn ein Gedenkstein für die ehemalige KZ Außenstelle sei. Niemand konnte ihr darauf eine Antwort geben. Die Mitarbeiter des Rathauses gingen davon aus, Frau F. verwechsele den Ort. Sie wussten nichts. Sie hatten niemals etwas davon gehört.
Dies änderte sich erst einige Jahre später. 1972 entdeckten drei Jugendliche aus Mörfelden-Walldorf bei einer Studienfahrt ins ehemalige KZ Buchenwald einen Plan, auf dem alle KZ-Außenstellen eingetragen waren. Fassungslos lasen sie dort den Namen der eigenen Heimatgemeinde: Walldorf.
Da begannen sie, nun selbst zu recherchieren. Akten des Bundesarchivs brachten schließlich die Bestätigung: Hier in diesem Waldgelände hatte von August bis November 1944 eine Außenstelle des KZ Natzweiler bestanden. 1.700 junge jüdische Ungarinnen waren in Baracken untergebracht gewesen. Auf dem Frankfurter Flughafen sollten sie eine erste betonierte Rollbahn bauen. Für die Luftwaffe galt diese Baumaßnahme als „kriegswichtig“. Im Ort war man damals über diese neuen Erkenntnisse wenig begeistert. Die Arbeit, die sich die drei jungen Männer machten, empfanden viele in den 1970er Jahren als „Nestbeschmutzung“.
Lange diskutierten die Parlamentarier darüber, ob und mit welchem Text ein Gedenkstein an dieser Stelle gesetzt werden sollte. Im März 1980 wurde er bei einer würdigen Feierstunde der Öffentlichkeit übergeben. Im Rahmen des städtischen Kulturprogramms „Begegnungen mit Ungarn“ nahm das Museum 1996 die Recherchen zu diesem Lager wieder auf: eine Vielzahl neuer Akten, vor allem Zeugenprotokolle ehemals hier inhaftierter Frauen, konnten eingesehen und der Öffentlichkeit im Rahmen einer Ausstellung zugänglich gemacht werden. Eine ungarische Jüdin, die in Walldorf lebt, hörte von diesem Projekt. Ihre Freundin (Margit Horváth) war 1944 hier im Lager inhaftiert gewesen. Wir führten intensive Gespräche und Interviews mit ihr. Die 12. Klassen der Bertha-von-Suttner-Schule nahmen das zum Anlass, nun auch selbst weiter zu recherchieren. Sie fuhren nach Ungarn und trafen in Pápa eine weitere Überlebende des Walldorfer Lagers. Tief bewegt kehrten sie nach Mörfelden-Walldorf zurück.
Sie engagierten sich — auch im Hinblick auf die Baufirma, für die diese Frauen 1944 gearbeitet hatten. Desgleichen taten das Parlament, die Presse, das Museum und immer mehr Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt.
Ein Ergebnis all dieser Arbeit unterschiedlichster Menschen und Gruppierungen ist der „Historische Lehrpfad“, der im November 2000 eingeweiht wurde. Wir danken allen, die sich engagiert an dieser Arbeit beteiligten.
Der Bevölkerung ist es nun eine Selbstverständlichkeit, sich mit der Geschichte dieser KZ-Außenstelle intensiv zu beschäftigen.
“In dem Alter, als wir jung und schön sein wollten, wurden wir abgeholt und deportiert…” sagt Ibolya (geb. 1921)
Nach militärischen Niederlagen an der Ostfront 1942/43 versuchte die ungarische Regierung, sich von ihrem bisherigen Bündnispartner Deutschland zu lösen. Ungarn nahm diplomatische Geheimkontakte mit den Westmächten auf. Gespräche über einen möglichen Sonderfrieden wurden geführt. Um dies zu verhindern, marschierten deutsche Truppen am 19. März 1944 in Ungarn ein. Auch beim bisherigen Bündnispartner Ungarn hatte es eine antisemitische Politik gegeben. Das 1941 verabschiedete so genannte dritte ungarische „Judengesetz“ ähnelte den Nürnberger „Rassegesetzen“ von 1935. Aber der deutschen Aufforderung, das Programm der so genannten „Endlösung“ zu übernehmen, hatte die ungarische Regierung nicht entsprochen. Dies begann erst mit dem Tag des Einmarsches der deutschen Wehrmacht. Damals lebten ca. 800.000 Jüdinnen und Juden in Ungarn. Die NS-Führung hatte alles generalstabsmäßig vorbereitet: 4. April 1944: Das Tragen des Davidsternes wird in Ungarn zur Pflicht. Mitte April 1944 musste die jüdische Bevölkerung in Ghettos leben. Ab 15. Mai 1944 rollten bereits die Deportationszüge Richtung Auschwitz.
„Wir wurden auf einer kleinen Bahnstation bei Frankfurt ausgeladen. Es war Mittagszeit; wir waren erschöpft und ohne Wasser…“ erinnert sich Szeren, eine der 1.700 in Walldorf inhaftierten jungen ungarischen Jüdinnen.
Bei dem Appell in Auschwitz am 19./20. August 1944 wurden 1.700 junge jüdische Frauen im Alter von 14 bis 45 Jahren für einen Arbeitseinsatz am Frankfurter Flughafen selektiert. Seit Kriegsbeginn unterstand der Flughafen der Deutschen Luftwaffe. Für den Einsatz des neuen düsenstrahlgetriebenen Flugzeuges (Me 262) wurde 1944 eine erste betonierte Rollbahn benötigt. Die Baumaßnahme wurde als „kriegswichtig“ bezeichnet. Die Organisation Todt beantragte am 10. August 1944 beim SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt die entsprechenden Arbeitskräftesprich: KZ-Häftlinge. Das Lager bestand aus sechs Unterkunfts– und einer Waschbarackebaulich war alles noch in einem recht neuen und relativ guten Zustand. Ringsum war das Lager mit Stacheldraht umzäunt. Nach der dreitägigen Fahrt, bei der die Frauen kaum etwas zu essen oder zu trinken bekommen hatten, mussten sie von der Bahnstation durch den Wald ins Lager marschieren. Eine der 1.700 Frauen starb bereits an diesem Ankunftstag: Jolan Freifeld, sie war gerade erst 40 Jahre alt. Zum Tod von Jolan Freifeld sagte der einstige Lagerführer bei seiner Vernehmung 1978:
„Ich kann heute nicht mehr sagen, ob der Häftling bereits bei der Ankunft des Transportes tot war oder erst hiernach verstorben ist. Wenn auch die Erklärung zur Beurkundung in sich widersprechend ist, so kann ich heute nichts anderes dazu sagen. Die von mir angegebene Todesursache „Herz– und Kreislaufschwäche“ muss wohl dadurch zustande gekommen sein, dass die Mithäftlinge von einer solchen Diagnose sprachen …“
Vera war 1944 erst 13 Jahre alt. Sie erzählt:
„Da ich zu jung war, wurde ich (in Auschwitz) von meiner Mutter getrennt und kam auf Block 12 im Lager B. II. C. Meine Mutter kam auf Block 3. Aber ich riskierte es und ging zur Mutter… Mehrere Male wurden wir selektiert. Am 19. August fielen wir — meine Mutter und ich — in die ausgesonderte Gruppe, die 1.700 Personen zählte und anschließend einwaggoniert wurde… Am 22. August 1944 kam unser Zug in Frankfurt/Main an. Wir wurden — völlig erschöpft — an einem sehr heißen Tag gejagt, hatten alle Durst und kein Wasser. Erinnerlich ist mir, dass wir zu Fuß ins Lager gingen; der Weg erschien mir sehr lang. Mir dünkt, dass am Weg eine von uns erschossen wurde.“