„Lebendige Geschichte“: Biographien im Mittelpunkt
„Die echten Kontakte, die die Zukunft gewährleisten können,
das sind zwischenmenschliche Beziehungen.
Dazu muss man Geduld haben.
Dazu muss man Zeit haben.
Dazu muss man dem anderen mit Geduld zuhören.
Dazu braucht man einen Professor Bar-On“.
Avi Primor, israelischer Botschafter in Deutschland a.D., über Dan Bar-On
In den Projekten der Margit-Horváth-Stiftung wird Geschichte nicht einfach in ihren großen politischen und sozialen Strukturen und Entwicklungen vermittelt, sondern anhand von einzelnen Biographien. Im Zentrum stehen die Schicksale einzelner Menschen. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass Geschichte in einer anderen Weise vorstellbar wird, wenn die Entwicklungen und Auswirkungen auf individueller Ebene nachvollzogen werden.
Eine politische Entscheidung bleibt zunächst abstrakt; die Ermordung von sechs Millionen Juden und 500.000 Sinti und Roma ist unvorstellbar.
Die Beschäftigung mit einer einzelnen Biographie, einer Überlegenden oder einem Ermordeten aber lässt am konkreten Beispiel anschaulicher beschreiben, was Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung bedeuteten.
Die Beschäftigung mit einzelnen Personen soll es den Teilnehmern der Stiftungsprojekte ermöglichen, ein eigenes Verhältnis zum Geschehenen zu entwickeln. Auch in diesem Sinne steht das einzelne Individuum im Mittelpunkt der Projekte.
Ein Beispiel für diesen Ansatz ist eine Studienfahrt nach Paris. Die Teilnehmer lernten mehrere Überlebende persönlich kennen, beschäftigten sich in diesem Kontext jedoch ebenfalls mit der deutschen Besatzung Frankreichs, ihren Folgen für die Bevölkerung und die Zeitzeugen, sowie mit dem Holocaust. Aber auch heutiges jüdisches Leben in Frankreich war Thema der Reise.
Selin, eine deutsch-türkische Teilnehmerin, schreibt rückblickend: „Sich mit einem Zeitzeugen über das Erlebte zu unterhalten, bedeutet nicht nur, eine Vielzahl an Informationen über die Vergangenheit zu erfahren, sondern es bringt einem, und das ist wesentlich wichtiger, menschlich viel mehr als der bloße Reichtum an Wissen.
Zu sehen, wie Menschen, die das Unfassbare erlebt haben, die grausamste Facette des Menschen wahrlich am eigenen Leibe verspürt haben, noch so viel Nächstenliebe in sich tragen — wie die beiden Zeitzeugen, die wir kennen gelernt haben — ist wesentlich mehr als nur „interessant“ …
Im Marais war es für mich regelrecht eigenartig Juden auf offener Straße so eindeutig identifizieren zu können und dazu noch so viele von ihnen auf einmal zu sehen. Auch jüdische Geschäfte gaben sich deutlich als solche zu erkennen.
In Deutschland scheint jener freie Umgang in Bezug auf Kleidung, Geschäft etc. immer noch nicht ohne weiteres denkbar.
Enttäuschend fand ich allerdings, dass sich eine derart große und auch politisch so wichtige Nation wie Frankreich scheinbar ihre unumstrittene Mitverantwortung am Holocaust immer noch nicht eingesteht.
Alles in allem aber nehme ich es, in Gedanken an Jules Fainzang, Magda Hollander-Lafon, alle weiteren Überlebenden und an alle Opfer, die der Holocaust forderte, als meine persönliche Pflicht wahr, das was ich über die 3 Tage gehört und gelernt habe, an Dritte weiterzugeben, denn eines Tages, wenn es diese Zeitzeugen nicht mehr gibt, sind wir diejenigen, die dafür Sorge tragen, dass die damaligen schrecklichen Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten.“
Im Rahmen einer Zustifterversammlung berichtete Maria, wie die Projekte der Stiftung auf sie wirkten und ihr Verhältnis zu ihrem Studienfach geprägt haben: „Geschichte ist ein wahnsinnig spannendes und vielfältiges Feld. Deshalb studiere ich dieses Fach. Aber über historische Ereignisse zu lernen, ihre Ursachen zu verstehen, Zusammenhänge herauszuarbeiten und ihre Auswirkungen für den weiteren Lauf der Geschichte zu analysieren – das alles ist doch nur ein Weg Geschichte kennenzulernen.
Durch die Arbeit der Margit-Horváth-Stiftung habe ich ein völlig anders Verständnis von Geschichte erfahren dürfen: Ich habe zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, wie die Geschichte das Leben von Menschen direkt beeinflusst und welchen Stellenwert sie in ihrem Leben einnimmt – weit über das historische Ereignis hinaus.
Dies wurde mir zum Beispiel sehr bewusst, als ich ein Zeitzeugengespräch mit drei Frankfurter Roma moderieren durfte, deren Eltern Überlebende des Holocausts sind. Ein Satz hat ganz besonders auf den Punkt gebracht, was mich bewegte: „Wir mussten in unserer Kindheit noch einmal all das erleben, was unseren Eltern im KZ passiert war.“ Mir persönlich wurde zum ersten Mal bewusst, dass der Holocaust und die Verbrechen der Nazis nicht mit dem Kriegsende aufhören zu wirken.
Was die Stiftung tut ist ganz einfach und doch erstaunlich selten: sie setzt an einem ganz zentralen Punkt an – am Menschen. Menschen machen Geschichte, Menschen erleben Geschichte und Menschen lernen aus der Geschichte. Das war auch mein zentrales Erlebnis bei einem Jugendprojekt in Polen: Es war keine trockene Studienreise. Wir mussten uns zwar umfassend vorbereiten. Aber im Mittelpunkt standen intensive Diskussionen, der Kontakt zwischen den Projektteilnehmern, die aus drei verschiedenen Ländern zusammengekommen waren, und das gemeinsame Lernen aufgrund eigenständiger Recherchen und Präsentationen. Der Dialog steht im Zentrum der Arbeit.
Das alles hat mein Verhältnis zu Geschichte – meinem Studienfach – maßgeblich verändert. Dafür bin ich der Stiftung sehr, sehr dankbar.“