Leben­dige Geschichte“: Bio­gra­phien im Mittelpunkt

„Die ech­ten Kon­takte, die die Zukunft gewähr­leis­ten kön­nen,
das sind zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hun­gen.
Dazu muss man Geduld haben.
Dazu muss man Zeit haben.
Dazu muss man dem ande­ren mit Geduld zuhö­ren.
Dazu braucht man einen Pro­fes­sor Bar-On“.

Avi Pri­mor, israe­li­scher Bot­schaf­ter in Deutsch­land a.D., über Dan Bar-On

bar-on-wiesbaden_klein
Dan Bar-On bei einem Vor­trag in Wies­ba­den, den die Margit-Horváth-Stiftung 2006 orga­ni­siert hatte.

 

In den Pro­jek­ten der Margit-Horváth-Stiftung wird Geschichte nicht ein­fach in ihren gro­ßen poli­ti­schen und sozia­len Struk­tu­ren und Ent­wick­lun­gen ver­mit­telt, son­dern anhand von ein­zel­nen Bio­gra­phien. Im Zen­trum ste­hen die Schick­sale ein­zel­ner Men­schen. Die­sem Ansatz liegt die Über­zeu­gung zugrunde, dass Geschichte in einer ande­ren Weise vor­stell­bar wird, wenn die Ent­wick­lun­gen und Aus­wir­kun­gen auf indi­vi­du­el­ler Ebene nach­voll­zo­gen werden.

Eine poli­ti­sche Ent­schei­dung bleibt zunächst abs­trakt; die Ermor­dung von sechs Mil­lio­nen Juden und 500.000 Sinti und Roma ist unvorstellbar.

Die Beschäf­ti­gung mit einer ein­zel­nen Bio­gra­phie, einer Über­le­gen­den oder einem Ermor­de­ten aber lässt am kon­kre­ten Bei­spiel anschau­li­cher beschrei­ben, was Dis­kri­mi­nie­rung, Ver­fol­gung und Ermor­dung bedeuteten.

Die Beschäf­ti­gung mit ein­zel­nen Per­so­nen soll es den Teil­neh­mern der Stif­tungs­pro­jekte ermög­li­chen, ein eige­nes Ver­hält­nis zum Gesche­he­nen zu ent­wi­ckeln. Auch in die­sem Sinne steht das ein­zelne Indi­vi­duum im Mit­tel­punkt der Projekte.

Ein Bei­spiel für die­sen Ansatz ist eine Stu­di­en­fahrt nach Paris. Die Teil­neh­mer lern­ten meh­rere Über­le­bende per­sön­lich ken­nen, beschäf­tig­ten sich in die­sem Kon­text jedoch eben­falls mit der deut­schen Besat­zung Frank­reichs, ihren Fol­gen für die Bevöl­ke­rung und die Zeit­zeu­gen, sowie mit dem Holo­caust. Aber auch heu­ti­ges jüdi­sches Leben in Frank­reich war Thema der Reise.

 

Selin, eine deutsch-türkische Teil­neh­me­rin, schreibt rück­bli­ckend: „Sich mit einem Zeit­zeu­gen über das Erlebte zu unter­hal­ten, bedeu­tet nicht nur, eine Viel­zahl an Infor­ma­tio­nen über die Ver­gan­gen­heit zu erfah­ren, son­dern es bringt einem, und das ist wesent­lich wich­ti­ger, mensch­lich viel mehr als der bloße Reich­tum an Wissen.

selin.paris_klein72dpi

Zu sehen, wie Men­schen, die das Unfass­bare erlebt haben, die grau­samste Facette des Men­schen wahr­lich am eige­nen Leibe ver­spürt haben, noch so viel Nächs­ten­liebe in sich tra­gen — wie die bei­den Zeit­zeu­gen, die wir ken­nen gelernt haben — ist wesent­lich mehr als nur „interessant“ …

Im Marais war es für mich regel­recht eigen­ar­tig Juden auf offe­ner Straße so ein­deu­tig iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen und dazu noch so viele von ihnen auf ein­mal zu sehen. Auch jüdi­sche Geschäfte gaben sich deut­lich als sol­che zu erkennen.

In Deutsch­land scheint jener freie Umgang in Bezug auf Klei­dung, Geschäft etc. immer noch nicht ohne wei­te­res denkbar.

Ent­täu­schend fand ich aller­dings, dass sich eine der­art große und auch poli­tisch so wich­tige Nation wie Frank­reich schein­bar ihre unum­strit­tene Mit­ver­ant­wor­tung am Holo­caust immer noch nicht eingesteht.

Alles in allem aber nehme ich es, in Gedan­ken an Jules Fainzang, Magda Hollander-Lafon, alle wei­te­ren Über­le­ben­den und an alle Opfer, die der Holo­caust for­derte, als meine per­sön­li­che Pflicht wahr, das was ich über die 3 Tage gehört und gelernt habe, an Dritte wei­ter­zu­ge­ben, denn eines Tages, wenn es diese Zeit­zeu­gen nicht mehr gibt, sind wir die­je­ni­gen, die dafür Sorge tra­gen, dass die dama­li­gen schreck­li­chen Gescheh­nisse nicht in Ver­ges­sen­heit geraten.“

 

Die Geschichtsstudentin Maria, hier während einer Studienreise nach Wroclaw in Polen, beschreibt, welche Wirkung die Stiftungsprojekte auf sie hatten.
Die Geschichts­stu­den­tin Maria, hier wäh­rend einer Stu­di­en­reise nach Wro­claw in Polen, beschreibt, wel­che Wir­kung die Stif­tungs­pro­jekte auf sie hatten.

Im Rah­men einer Zustif­ter­ver­samm­lung berich­tete Maria, wie die Pro­jekte der Stif­tung auf sie wirk­ten und ihr Ver­hält­nis zu ihrem Stu­di­en­fach geprägt haben: „Geschichte ist ein wahn­sin­nig span­nen­des und viel­fäl­ti­ges Feld. Des­halb stu­diere ich die­ses Fach. Aber über his­to­ri­sche Ereig­nisse zu ler­nen, ihre Ursa­chen zu ver­ste­hen, Zusam­men­hänge her­aus­zu­ar­bei­ten und ihre Aus­wir­kun­gen für den wei­te­ren Lauf der Geschichte zu ana­ly­sie­ren – das alles ist doch nur ein Weg Geschichte ken­nen­zu­ler­nen.
Durch die Arbeit der Margit-Horváth-Stiftung habe ich ein völ­lig anders Ver­ständ­nis von Geschichte erfah­ren dür­fen: Ich habe zum ers­ten Mal bewusst wahr­ge­nom­men, wie die Geschichte das Leben von Men­schen direkt beein­flusst und wel­chen Stel­len­wert sie in ihrem Leben ein­nimmt – weit über das his­to­ri­sche Ereig­nis hin­aus.
Dies wurde mir zum Bei­spiel sehr bewusst, als ich ein Zeit­zeu­gen­ge­spräch mit drei Frank­fur­ter Roma mode­rie­ren durfte, deren Eltern Über­le­bende des Holo­causts sind. Ein Satz hat ganz beson­ders auf den Punkt gebracht, was mich bewegte: „Wir muss­ten in unse­rer Kind­heit noch ein­mal all das erle­ben, was unse­ren Eltern im KZ pas­siert war.“  Mir per­sön­lich wurde zum ers­ten Mal bewusst, dass der Holo­caust und die Ver­bre­chen der Nazis nicht mit dem Kriegs­ende auf­hö­ren zu wir­ken.
Was die Stif­tung tut ist ganz ein­fach und doch erstaun­lich sel­ten: sie setzt an einem ganz zen­tra­len Punkt an – am Men­schen. Men­schen machen Geschichte, Men­schen erle­ben Geschichte und Men­schen ler­nen aus der Geschichte. Das war auch mein zen­tra­les Erleb­nis bei einem Jugend­pro­jekt in Polen: Es war keine tro­ckene Stu­di­en­reise. Wir muss­ten uns zwar umfas­send vor­be­rei­ten. Aber im Mit­tel­punkt stan­den inten­sive Dis­kus­sio­nen, der Kon­takt zwi­schen den Pro­jekt­teil­neh­mern, die aus drei ver­schie­de­nen Län­dern zusam­men­ge­kom­men waren, und das gemein­same Ler­nen auf­grund eigen­stän­di­ger Recher­chen und Prä­sen­ta­tio­nen. Der Dia­log steht im Zen­trum der Arbeit.
Das alles hat mein Ver­hält­nis zu Geschichte – mei­nem Stu­di­en­fach – maß­geb­lich ver­än­dert. Dafür bin ich der Stif­tung sehr, sehr dank­bar.

Israels Botschafter a.D. in Deutschland Avi Primor. Foto: Wikipedia.
Isra­els Bot­schaf­ter a.D. in Deutsch­land: Avi Pri­mor. Foto: Wikipedia.
Julia, eine Studentin der Geschichtswissenschaft aus Kiew, nahm am ersten work-and-study Camp 2005 teil. Im Anschluss schrieb sie uns die folgenden Zeilen: „Wir beschlos­sen einen Rück­blick zu wer­fen auf die Geschichte unse­rer Län­der und auf die Leben unse­rer Fami­lien, die das alles durch­lebt haben. Ich meine damit nicht den wis­sen­schaft­li­chen Rück­blick, der in den Büchern gedruckt ist. Und ich meine auch nicht die in irgend­ei­nem Ver­lag ver­öf­fent­lichte Geschichte. Das haben wir alles schon in der Schule gelernt. Das ist in der Mehr­heit der Fälle die blinde Geschichte. Ich rede von der ech­ten Geschichte, von der leben­den Geschichte, die aus dem Leben jeder Per­son besteht und das Leben des Men­schen in den Mit­tel­punkt stellt. Diese Geschichte haben wir auf neue Weise durch­ge­le­sen. Viel­leicht täu­sche ich mich ein biss­chen, viel­leicht haben nicht alle das­selbe gefühlt. Aber es gab da etwas, das sich hin­ter unse­ren Wor­ten ver­barg… der andere Sinn, den wir mit­tei­len woll­ten. Selbst wenn uns unser Eng­lisch in Sack­gas­sen führte, konn­ten wir wei­ter spre­chen: mit Bli­cken, selbst mit unse­rem Schwei­gen. Ich bin nicht der Mei­nung, dass wir nicht immer nur in der Ver­gan­gen­heit wüh­len sol­len. Aber wir sol­len uns so weit in unsere Geschichte ver­tie­fen, dass jeder für sich selbst schließ­lich ent­schei­den kann: Was ist die Lüge? Was ist die Wahr­heit? Was sol­len wir in Ruhe las­sen? und was sol­len wir im Gedächt­nis behal­ten um dem in der Zukunft vor­zu­beu­gen? Wir sol­len nichts bekla­gen und Wir sol­len nicht recht­fer­ti­gen. Aber wir sol­len verstehen.“
Julia, eine Stu­den­tin der Geschichts­wis­sen­schaft aus Kiew, nahm am ers­ten work-and-study Camp 2005 teil. Im Anschluss schrieb sie uns die fol­gen­den Zei­len:

„Wir beschlos­sen einen Rück­blick zu wer­fen auf die Geschichte unse­rer Län­der und auf die Leben unse­rer Fami­lien, die das alles durch­lebt haben.
Ich meine damit nicht den wis­sen­schaft­li­chen Rück­blick, der in den Büchern gedruckt ist. Und ich meine auch nicht die in irgend­ei­nem Ver­lag ver­öf­fent­lichte Geschichte. Das haben wir alles schon in der Schule gelernt.
Das ist in der Mehr­heit der Fälle die blinde Geschichte.
Ich rede von der ech­ten Geschichte, von der leben­den Geschichte, die aus dem Leben jeder Per­son besteht und das Leben des Men­schen in den Mit­tel­punkt stellt. Diese Geschichte haben wir auf neue Weise durch­ge­le­sen.
Viel­leicht täu­sche ich mich ein biss­chen, viel­leicht haben nicht alle das­selbe gefühlt. Aber es gab da etwas, das sich hin­ter unse­ren Wor­ten ver­barg… der andere Sinn, den wir mit­tei­len woll­ten.
Selbst wenn uns unser Eng­lisch in Sack­gas­sen führte, konn­ten wir wei­ter spre­chen: mit Bli­cken, selbst mit unse­rem Schwei­gen.
Ich bin nicht der Mei­nung, dass wir nicht immer nur in der Ver­gan­gen­heit wüh­len sol­len.
Aber wir sol­len uns so weit in unsere Geschichte ver­tie­fen, dass jeder für sich selbst schließ­lich ent­schei­den kann: Was ist die Lüge? Was ist die Wahr­heit? Was sol­len wir in Ruhe las­sen? und was sol­len wir im Gedächt­nis behal­ten um dem in der Zukunft vor­zu­beu­gen?
Wir sol­len nichts bekla­gen und wir sol­len nicht recht­fer­ti­gen.
Aber wir sol­len verstehen.“
In mehreren Jugendprojekten hat sich die Margit-Horváth-Stiftung dazu entschlossen, Archivarbeit in die Studienfahrten zu integrieren. Dabei geht es uns vor allem darum, einzelne Biographien zu recherchieren und nachzuvollziehen, diese aber auch in ihren gesellschaftlichen, sozialen und politischen Kontext zu stellen. Denn wir sind davon überzeugt, dass sich Geschichte an einzelnen Biographien sehr viel nachvollziehbarer verstehen lässt: Es fällt leichter ein einzelnes Schicksal nachzuvollziehen. Es wird aber auch deutlich, wie politische Entscheidungen und Entwicklungen sich auf das Leben der Menschen auswirken.
In meh­re­ren Jugend­pro­jek­ten hat sich die Margit-Horváth-Stiftung dazu ent­schlos­sen, Archiv­ar­beit in die Stu­di­en­fahr­ten zu inte­grie­ren. Dabei geht es uns vor allem darum, ein­zelne Bio­gra­phien zu recher­chie­ren und nach­zu­voll­zie­hen, diese aber auch in ihren gesell­schaft­li­chen, sozia­len und poli­ti­schen Kon­text zu stel­len. Denn wir sind davon über­zeugt, dass sich Geschichte an ein­zel­nen Bio­gra­phien sehr viel nach­voll­zieh­ba­rer ver­ste­hen lässt: Es fällt leich­ter ein ein­zel­nes Schick­sal nach­zu­voll­zie­hen. Es wird aber auch deut­lich, wie poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen und Ent­wick­lun­gen sich auf das Leben der Men­schen auswirken.

Die Beschäftigung mit einzelnen Biographien steht auch im Mittelpunkt der Arbeit an der KZ-Außenstelle Walldorf. Aber es geht uns hier nicht nur um die Lebensgeschichten der KZ-Häftlinge. Immer wieder fragen wir danach: Was bedeutet das für jeden Einzelnen von uns heute? Dies geschieht über den Tag verteilt immer wieder aber besonders intensiv abends in gemeinsamen Diskussionsrunden.
Die Beschäf­ti­gung mit ein­zel­nen Bio­gra­phien steht auch im Mit­tel­punkt der Arbeit an der KZ-Außenstelle Wall­dorf.
Aber es geht uns hier nicht nur um die Lebens­ge­schich­ten der KZ-Häftlinge. Immer wie­der fra­gen wir danach: Was bedeu­tet das für jeden Ein­zel­nen von uns heute? Dies geschieht über den Tag ver­teilt immer wie­der aber beson­ders inten­siv abends in gemein­sa­men Diskussionsrunden.