Wenn der individuelle Mensch keine Rolle mehr spielt.
Wie nennt man das?
Schubladendenken? Diskriminierung? Vielleicht auch Rassismus?
Es geschah im Horváth-Zentrum. Eine gewerkschaftliche Gruppe war zu Besuch.
Eine junge Frau übernahm in ihrer Freizeit die Führung. Sie steht kurz vor dem Abschluss ihres Geschichtsstudiums, ist seit fast zehn Jahren ehrenamtlich in der Margit-Horvath-Stiftung aktiv, eine sehr gute Kennerin der Geschichte der KZ-Außenstelle, ausgesprochen höflich und respektvoll, eine Muslima und Kopftuchträgerin …
Diese junge Frau wird am Ende ihrer Führung von einem der Besucher förmlich in die Zange genommen und gefragt, warum sie denn dieses „Ding“ da trage. Dabei zeigt er mit dem Finger auf ihr Kopftuch. Die Studentin setzt an, um ihre persönliche Haltung zu erklären. Doch dies wird sofort weggewischt. Dies interessiert nicht.
Dieser Mann ist der Meinung, dass es eines Ortes, an dem der Verfolgung von Jüdinnen gedacht wird, nicht würdig sei, dass eine Muslima, eine Kopftuchträgerin, führt. Er assoziiert dabei den Iran und den dortigen Kopftuchzwang. Die junge Studentin unterscheidet zwischen Zwang und einer freiwilligen persönlichen Entscheidung dies zu tun. Das ist für ihn völlig irrelevant. Kopftuchtragende Muslima sollten an diesem Ort nicht führen, sagt er. Punkt.
Wir sind erschüttert. Die Individualität dieser jungen Frau spielt für ihn keinerlei Rolle. Wo ist hier die Würde des Menschen? Und wer wird davon ausgeschlossen?
Heinz-Peter Becker, der frühere Bürgermeister der Stadt Mörfelden-Walldorf, schreibt dazu:
„Seit 20 Jahren gehöre ich dem Kuratorium der Margit-Horváth-Stiftung, seit einigen Jahren als ihr Vorsitzender. an. Eine solche Diskriminierung gegenüber einer jungen Frau in unserer Erinnerungs– und Bildungsstätte habe ich noch nicht erlebt. Dies können und wollen wir, gerade angesichts unseres Selbstverständnisses, unseren Zielen und unserem Handeln, nicht unwidersprochen lassen.“
Carolin Heß, Geschichtslehrerin und Vorstandsmitglied der Margit-Horváth-Stiftung, schreibt:
Vielfalt, Offenheit, Toleranz, Zivilcourage – das sind die Werte, für die unsere Stiftung steht. Wer ist besser geeignet, diese Werte zu repräsentieren als gerade eine junge Muslima mit Kopftuch, die sich in ihrem Studium und (!) in ihrer Freizeit mit jüdischer Geschichte beschäftigt? Ihr das Recht abzusprechen, in unserem Horváth-Zentrum zum Thema Antisemitismus und NS zu führen, ist Ausdruck einer Doppelmoral. Es ist inakzeptabel, dass sie auf diese Weise angegriffen wurde und dass ihr in der Situation im Grunde niemand wirklich beistand. Es stimmt mich sehr betrüblich, dass unsere Mitarbeiterin diesen Angriff alleine ertragen musste.
Amira Esposito, Oberstufenschülerin, Preisträgerin des diesjährigen Beni-Bloch-Preises der jüdischen Gemeinde Frankfurt, schreibt:
„Frauen dürfen sich kleiden wie sie wollen. Ihre Kleiderwahl muss respektiert werden, unabhängig davon, ob es sich um einen kurzen Rock oder ein Kopftuch handelt. Die Frauen im Iran, an die dieser Herr offensichtlich dachte, kämpfen genau für diese Freiheit. Die engagierten jungen Frauen im Iran kritisieren nicht Frauen, die Kopftuch tragen, sondern sie kämpfen für die Freiheit der Frauen, selbst zu entscheiden, ob sie es tragen wollen oder nicht. Sie kämpfen gegen ihre Bevormundung. Und das tun wir auch hier.“
Kristin Flach-Köhler, Leiterin des ev. Zentrum für Interkulturelle Bildung in Mörfelden-Walldorf schreibt:
„Die Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland sagte jüngst bei einer Großkundgebung: „Wenn wir sehen, dass unsere Mitmenschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihres Aussehens diskriminiert, verachtet, ja angegriffen werden, dann dürfen wir nicht schweigen. Als Menschen nicht und als Christenmenschen schon gar nicht.“
Sich nicht gegenseitig in Schubladen stecken, sondern miteinander reden, sich gegenseitig zuhören, sich füreinander öffnen und dann ins gemeinsame Tun kommen, das wollen wir mit der tagtäglichen Arbeit in unserem Zentrum.“
Ulrike Holler, vielfach ausgezeichnete Journalistin, u.a. mit dem Elisabeth-Selbert-Preises des Landes Hessen, schreibt:
„Die Haltung, dass eine Muslima mit Kopftuch als Pädagogin in einer KZ-Gedenkstätte nichts verloren hat, empört mich. Das regt mich auf. Warum?
Weil hier unterstellt wird, dass eine Kopftuchträgerin kein Wissen und kein Mitempfinden für oder über die Opfer der NS-Zeit haben kann. Früher hieß es “Juden raus.“ Jetzt soll es wohl heißen: „Kopftuchträgerinnen raus.“
Nilüfer Aldmeri und Sedef Yıldız, Fachstelle gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Kreis Groß-Gerau, schreiben:
„Es handelt sich hier um antimuslimischen Rassismus. Eine Frau zur Rechenschaft darüber zu ziehen, welche religiöse Entscheidung sie für sich getroffen hat und ihre individuelle Haltung dazu nicht einmal hören zu wollen, ist menschenverachtend und zeugt von rassistischen Höherwertigkeitsideologien, der sog. „White Supremacy“, die rechtsextremen Denkvorstellungen zuzuordnen sind.
Wir verurteilen diesen antimuslimisch rassistischen Vorfall, der der Mitarbeiterin der Margit-Horvath-Stiftung widerfahren ist, aufs Schärfste und solidarisieren uns uneingeschränkt mit ihr. Sie hat unsere volle Unterstützung.“
Anette Keim, Leiterin des Integrationsbüros der Stadt Mörfelden-Walldorf
„Diskriminierend, rassistisch und bedrängend – so nehmen wir den Vorfall im Horváth-Zentrum/ KZ-Gedenkstätte Walldorf wahr. Offensichtlich bestand hier kein Bewusstsein davon, dass in Deutschland nicht nur Meinungs-, sondern auch Religionsfreiheit herrscht. In unserem Land ist es allen Menschen freigestellt, ob sie ein Kreuz, ein Kopftuch oder eine Kippa als Zeichen ihrer Gläubigkeit tragen. Das Engagement dieser Studentin ist ein großartiger Einsatz für Völkerverständigung, insbesondere auch zwischen jüdischen und muslimischen Gläubigen. Und gerade jetzt ist dies so wichtig.“
Die Enkelin einer ungarischen Jüdin, die 1944 in der KZ-Außenstelle Walldorf inhaftiert war, schreibt:
„Meine Oma, eine Überlebende der KZ-Außenstelle Walldorf, hat mir beigebracht, es zählt der Mensch. Und nur der Mensch.
Ob also eine junge muslimische Geschichts-Studentin, die sich seit 10 Jahren in ihrer Freizeit für die Horvath-Stiftung engagiert, ein Kopftuch trägt oder nicht, ist nicht die Frage.
Meine Oma hätte sich bei der jungen Frau für ihre Unterstützung bedankt. Und genau das möchte ich hiermit auch tun. Danke.“
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Und nun? Was machen wir jetzt?
Die junge Frau wurde persönlich verletzt. Können wir sie nochmals bitten, im Horváth-Zentrum Führungen zu übernehmen und sich damit erneut der Gefahr von Anfeindungen auszusetzen? Natürlich lässt sie sich so nicht von ihrem Engagement abbringen. Doch wir werden alles dafür tun, dass sie geschützt ist.
Das sollten auch Sie in Ihrem Alltag tun. Seien Sie mutig.
Lassen Sie diejenigen, die diskriminiert werden nicht alleine stehen.
Margit-Horváth-Stiftung
Mörfelden-Walldorf, den 25. Juni 2024
Solidaritätsschreiben von “Schulter an Schulter” der “Stiftung gegen Rassismus”