Zur Lage der Meinungsfreiheit in Myanmar
Ein Beitrag von Dr. Kerstin Duell
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Meinungsfreiheit im Myanmar-Style: Aus der Zeitblase in den digitalen Widerstand
GEFANGEN UNTER ZENSUR IN DER ZEITBLASE
Mit Ausnahme der teilweisen politischen Öffnung zwischen 2012 bis 2019 zählt Myanmar hinsichtlich der Verachtung der Menschen– und Bürgerrechte in den entsprechenden Ranglisten zu den restriktivsten Regimen weltweit.
Insbesondere die eng miteinander verflochtenen politischen Rechte Meinungs-, Versammlungs– und Vereinigungsfreiheit sowie das Recht auf Beteiligung an der Regierung durch regelmäßige, aussagekräftige Wahlen mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht, konnte die Bevölkerung seit der Unabhängigkeit 1948 selten ausüben.
Meinungsfreiheit – die Freiheit, eine persönliche Meinung öffentlich in den Medien, bei Kundgebungen oder auch nur in der Schule oder Nachbarschaft zu äußern – war jahrzehntelang mit hohem Risiko verbunden (Verhaftung, Verhör, Folter, Gefängnis und Tod).
Bereits der Prozess der persönlichen Meinungsbildung wurde unterbunden, da unter der direkten und indirekten Militärherrschaft seit 1958 kein Auskunftsrecht gewährt wurde sowie kaum Zugang zu unabhängig erhobenen Daten, wissenschaftlichen Quellen oder Qualitätsjournalismus.
Stattdessen führte das Zusammenspiel von strenger Zensur, geheimdienstlicher Überwachung, wenig verfügbaren Fakten und internationaler Isolation zu einer brodelnden Gerüchteküche gepfeffert mit Angst und Misstrauen. Die Bevölkerung war darauf angewiesen, in staatlichen Sprachrohren zwischen den Zeilen zu lesen oder heimlich den burmesischen Programmen von BBC und Radio Free Asia zu lauschen, was unter Strafe stand.
Mit ihrem typischen Humor sprachen die Burmesen vom grün-roten Staatsfernsehen, das nur die Generäle in Uniform an der Seite von Saffran-gewandeten Mönchen zeigte, um die Legitimität des Militärs zu sichern. Da Nationalismus in Myanmar untrennbar mit dem Buddhismus verbunden ist, hält das Militär bis heute an seiner Rolle als „Beschützer der Nation, der Rasse und der Religion“ fest.
Beide zentralen Institutionen des Landes – die militärische Führungsspitze und der buddhistische Klerus – schließen Frauen aus.
Bis zur vom Militär gesteuerten Öffnung 2011/2012 blieb Burma/ Myanmar abgeschottet. Zum einen hatte die Führungselite seit der kolonialen Unabhängigkeit und im Kalten Krieg als Gründungsmitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten immer eine bündnisfreie Außenpolitik und schließlich selbstgewählte Isolationspolitik verfolgt. Dazu kamen nach der blutigen Niederschlagung der landesweiten, von Studenten initiierten Demokratiebewegung 1988 internationale Sanktionen. Während der von Mönchen angeführten „Saffran Revolution“ 2007 ermordete das Militär wieder unbewaffnete, pro-demokratische Demonstranten und erneuerte somit Myanmars Pariah-Status und daraus resultierende Sanktionen.
Internationale Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine gelangten nur vereinzelt ins Land oder gar nicht, falls die Ausgabe regimekritische Artikel beinhaltete. Bis Mitte der 2000er konnte man diese in den wenigen internationalen Hotels im damaligen Rangun und Mandalay lesen.
Das gleiche galt für Buchläden, von denen kaum eine Handvoll in Rangun existierte. Nur eine diskrete Adresse führte historische und politische Titel, die in den berühmten Untergrund-Lesezirkeln weitergegeben wurden. Ansonsten verkauften Straßenhändler schlechte Kopien auf den verfallenen Trottoirs der kolonialen Altstadt.
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Im Zuge der systematischen Unterdrückung aller politischen Rechte machte das Militär 1988 auch jahrelang die einzigen Universitäten in Rangun und Mandalay zu. Da Studenten seit dem anti-kolonialen Widerstand mit dem Campus als Ort der Mobilisierung immer eine zentrale Rolle in der Politik gespielt hatten, wurde so die Versammlungsfreiheit unterbunden.
Nun wiederholt sich die Geschichte. Seit der Pandemie und dem Putschversuch 2021 bleiben Universitäten und Schulen geschlossen und wurden zum Teil vom Militär zerstört. Auch das Recht auf Bildung, Artikel 26, haben Burmesen nicht – es sei denn in den Landesteilen, die von der gewählten Regierung NUG und den ethnischen Widerstandsorganisationen verwaltet werden.
POLITISCHER AUFBRUCH 2012–2019
Myanmars turbulente, sehr komplexe Zeitgeschichte geht weit über diesen Rahmen hinaus. Entscheidend hier ist die rasante Öffnung eines Landes, das quasi in einer Zeitblase der 1960er Jahre gefangengehalten und dann 2012 — 2014 schockartig ins 21. Jahrhundert katapultiert wurde. Mit dem rapiden Zustrom ausländischer Organisationen, Produkte und Ideen ließ das Militär Geister aus der Flasche, die es nicht mehr kontrollieren konnte.
Titelbilder durften Daw Aung San Suu Kyi zeigen und vieles berichten, was vorher unter Strafe stand.
Kundgebungen fanden statt, wobei die Polizei im Hintergrund patrouillierte OHNE gewaltsam einzugreifen.
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Plötzlich gab es Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Handlungsmöglichkeiten! Verbunden mit der explosionsartigen Verbreitung von günstigen chinesischen Mobiltelefonen und Internetzugang erlaubte das Journalisten, politischen Akteuren und der Zivilgesellschaft, aus dem Untergrund zu kommen und ihren Wirkungsbereich exponentiell zu vergrößern.
Die Bevölkerung aber hatte größtenteils keine Erfahrung mit verantwortungsvollem Umgang mit Information online und offline. Facebook avancierte schnell zum Synonym für Internet in Myanmar schlechthin. Hier zeichneten sich alsbald gesellschaftliche Verwerfungen genauso ab, wie Beschimpfungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Hass-Reden gegen Minderheiten. Später beschuldigten eine UN-Untersuchungsmission 2018 sowie Amnesty International 2022 Facebooks gefährliche Algorithmen und rücksichtsloses Profitstreben hätten wesentlich zu den Greueltaten des Militärs im Rakhine-Staat beigetragen.
In ihrer Vielschichtigkeit war diese Phase ab 2012 trotz dramatischer Schattenseiten eine faszinierende Zeit voller Möglichkeiten, in der die burmesische Kreativität, Wissbegier, Unternehmergeist und Projekte mit ausländischen Partnern blühten.
Im Zeitraffer liefen Prozesse der internationalen und marktwirtschaftlichen Öffnung, Demokratisierung, Dezentralisierung, Konfliktlösung und Geschlechtergleichstellung an, die leider alle unvollendet geblieben sind.
Trotz dieser schwindelerregenden Entwicklungen in so kurzer Zeit wurde Myanmar nicht zu einem freien Staat. Nur wer Myanmars jahrzehntelang geschürte, vielschichtige Krisen und Traumata ignorierte, hegte solche unrealistische Erwartungen. Aber der Optimismus gerade der jungen Generationen war ansteckend.
Sowohl unter Führung der militärischen Stellvertreterpartei (Ende 2010 — 2015) als auch der Nationalen Liga für Demokratie (Ende 2015 — 2020) kam es zu Verletzungen der Menschen– und Bürgerrechte. Das Militär behielt dank seiner maßgeschneiderten Verfassung die eigentliche Macht im Staat, blockierte Verfassungsänderungen in Richtung Demokratisierung und kontrollierte die Milliardeneinkünfte aus der Gewinnung natürlicher Ressourcen. Die gesamte militärische Institution stand weiterhin über der zivilen parlamentarischen Kontrolle, was maßgeblich den Genozid an den Rohingya ermöglichte.
Wenige außer den früheren Exilanten und Daw Aung San Suu Kyi hatten direkte Erfahrung mit Demokratie und einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Daher zeigten selbst Parlamentarier und Ministerien kaum Verständnis für das Recht auf Information, die Rolle von Medienvertretern, regelmäßigen Pressekonferenzen oder öffentlichen Archiven. Als zwei Reuters-Journalisten 2017 über ein Massaker der Armee an Rohingya berichteten, wurden sie zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Generell dienten koloniale und neue Gesetze zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Frauen sahen sich noch zusätzlichen Repressalien ausgesetzt, besonders Frauenrechtlerinnen und Journalistinnen. Frauen in Myanmars Politik, gerade während der Wahlkampagnen, erfuhren geschlechterspezifische Online– und Offline–Einschüchterungsversuche und wurden in den Medien kaum portraitiert. Parlamentarierinnen mussten sich in männerdominierten politischen Parteien durchsetzen und auch gegen die Militärs, die ein Viertel der Parlamentssitze okkupierten.
DIGITALER WIDERSTAND SEIT DEM PUTSCHVERSUCH 2021
Mit dem gescheiterten Putschversuch am 1. Februar 2021 vernichtete das Militär die sozio-ökonomischen Fortschritte auf einen Schlag und stürzte das Land in den darauffolgenden Monaten in eine humanitäre Katastrophe und Bürgerkrieg, der sich zunehmend zu einem regionalen Krisenherd entwickelt. Seitdem haben Militär und Behörden mindestens 3.400 Personen getötet, davon ein Drittel, d.h. 1.000, im Gefängnis. Über 17.700 Personen sitzen in Haft.
Schnell kriminalisiert die Junta Journalismus und macht das Land zu einem der gefährlichsten weltweit. Auf der Straße und bei Razzien in Redaktionen und Wohnungen verhaften Sicherheitskräfte Dutzende von Medienschaffenden und ermorden einige – 2022 erreicht Myanmar die zweithöchsten Zahl an inhaftierten Journalisten weltweit nach China!
Dazu sollen weitreichende Gesetze gegen „Staatsfeindlichkeit“ und „Falschnachrichten“ die unabhängige Berichterstattung über den landesweiten Widerstand und die demokratische Gegenregierung unterdrücken. Aber die im Exil und seit 2012 längst professionalisierten Medien arbeiten aus dem Untergrund unter höchstem Risiko weiter.
Da die Bevölkerung mutig ihr Recht auf Meinungsfreiheit mit den begrenzten zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt, führt die Junta 1.) aktiven Krieg gegen Zivilisten, 2.) setzt weitreichende Gesetze sowie Änderungen des Strafgesetzbuchs ein und 3.) kontrolliert die Kommunikationstechnologie.
Seit Februar 2021 werden Mobilfunk– und Internetverbindungen blockiert, die Registrierung neuer SIM-Karten und Telefon-IMEIs erschwert und Mobiltelefone von Passanten konfisziert.
Einer der ersten Befehle am Putschtag an die Soldaten lautete, landesweit in Rechenzentren einzubrechen und Internetkabel zu durchtrennen. Seitdem führt die Junta systematisch Internet-Unterbrechungen vor und während militärischer Angriffe auf Dörfer durch, um ihre Strategie der „verbrannten Erde“ mit Tötungen, Folter, Misshandlungen, Verhaftungen und Brandstiftungen zu verschleiern und zu erleichtern.
Regionen mit dem stärksten, inzwischen bewaffneten Widerstand wurden Ziel von kompletten Abschaltungen: Zwischen Februar 2021 und März 2023 waren etwa 50 Gemeinden seit mehr als einem Jahr von der Außenwelt abgeschnitten und Hpakant im Kachin Staat sogar über 18 Monate.
Der berüchtigte militärische Geheimdienst hat seit Jahrzehnten private Kommunikation überwacht und das in den letzten Jahren mit modernster Überwachungstechnologie vor allem aus China und Vietnam. Umso beunruhigender ist, dass die israelische Firma Cognyte hochentwickelte Spähsoftware Anfang 2021 an das Militär lieferte. Cognyte ist bekannt für Deals mit menschenrechtsverachtenden Regimen und wurde infolgedessen von Facebook verbannt sowie von einigen europäischen Firmen ausgeschlossen.
Die Junta nutzt Cognyte zur Ausweitung der elektronischen Überwachung. Die Spähsoftware ermöglicht es direkt, Telefongespräche abzuhören, Textnachrichten und Emails zu lesen und den Aufenthaltsort von Internetnutzern zu ermitteln. All das liefert Aktivisten, Journalisten und Zivilisten noch mehr dem Militär aus.
Heute, nach über zwei Jahren, ist die tägliche Berichterstattung nicht abgebrochen und bezeugt den unglaublichen Mut und Entschlossenheit, ein für alle Mal der Militärdiktatur ein Ende zu bereiten. Ungeachtet drakonischer Strafen gelangen Interviews, Fotos und Videos von schweren Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit ins Netz. Experten verifizieren und speisen Beweismaterialien in wachsende Datenbanken ein, die Fällen vor internationalen und nationalen Gerichtshöfen zusätzliches Gewicht verleihen sollen.
Weniger dokumentiert ist die Rolle von Frauen im zivilen Widerstand, den politischen Organisationen sowie den bewaffneten Einheiten. Weltweit erfahren Frauen für die Ausübung ihrer Meinungsfreiheit überproportional mehr Gewalt sowie geschlechterspezifische Desinformationskampagnen. Diese Gefahr wird nur langsam verstanden.
So setzen sich die politische Verfolgung und der Mangel an Rechenschaftspflicht seit dem Putschversuch in Myanmar auf sozialen Medienplattformen wie Facebook und Telegram fort. Menschen– und Frauenrechtsorganisationen dokumentierten von männlichen Profilen verfasste sexualisierte Desinformation und Doxxing, um politisch aktive Frauen zu unterminieren. Das stimme mit den von offiziellen Junta-Medien verbreiteten Narrativen über oppositionelle Frauen als „moralisch korrupt, promiskuitiv und rassisch unrein“ überein, laut Myanmar Witness.
Digitale Kollektive mit neuen Ausdrucksformen
Die selbst für Myanmars Verhältnisse schockierende Brutalität und Willkür der Junta trifft auf eine urbane Jugend, die bis dahin unbelastet von Traumata der Überwachung und Zensur in relativem Wohlstand als erste „Digital Natives“ aufgewachsen ist.
Ihre Protest-Repertoires stecken voller Kreativität und Ausdruckskraft; die anfangs straßenfestartigen Demonstrationen und später Installationen der „stillen Proteste“ ohne Menschen erreichen eine immense Präsenz in den sozialen Medien. Dem können die alten analogen Militärkommandeure wenig entgegensetzen. Sie werden von der sofortigen globalen Verbreitung von Bildmaterial und Karikaturen quasi überrannt. Auch buchstäblich trampeln Demonstranten über riesige Porträts des Oberbefehlshabers auf dem Asphalt – eine tödliche Beleidigung für Buddhisten.
Gleichzeitig versuchen Aktivisten mit Radiosendungen Polizisten und einfache Soldaten zu erreichen und zum Widerstand zu ermutigen. Soldaten leben mit ihren Familien isoliert in Militärstützpunkten ohne Internetzugang und sind der „Gehirnwäsche“ des Militärapparats ausgeliefert.
Digitale Kollektive entwickeln Tools und Apps für Boykott von Produkten und Leuten, die mit den Unternehmen der Militärs in Verbindung stehen. Sie sind auch vernetzt mit der asienweiten #MilkTeaAlliance, die über Twitter Solidaritätsproteste organisiert.
Myanmars digitale Revolution und Demokratisierung der Finanzdienstleistungen im letzten Jahrzehnt ermöglicht auch die Mobilisierung von Geldern für den Widerstand, ein Großteil davon in Form von kleinen Einzelspenden aus der Diaspora.
Angesichts der von der Junta betriebenen Vernichtung von Menschen und Freiheiten sind die Leistungen der demokratischen Gegenregierung und aller zivilen und bewaffneten Widerstandsorganisationen beeindruckend. Es ist Myanmars Generation Z, Millennials und den inzwischen gut ausgebildeten Aktivisten aus dem breitgefächerten, zivilgesellschaftlichen und politischen Spektrum gelungen, sich weltweit digital zu vernetzen, Lobbyarbeit in den Korridoren der Macht zu betreiben und mit minimaler Ausrüstung einem reichen, von China und Russland bewaffneten Militärapparat die Stirn zu bieten. Die internationale Gemeinschaft dagegen hat versagt.
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Alle Fotos copyright: Kerstin Duell. https://kerstinduell.photoshelter.com/
Interview Kerstin Duell zu Aung San Suu Kyi, vom Dezember 2021 sehen Sie hier.
oder ein Podcast Interview der Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Januar 2022: hier.
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