Meşale Tolu Çorlu – eine deutsche Journalistin, verhaftet in der Türkei und dort acht Monate in Untersuchungshaft gefangen gehalten. Ihr Prozess wird immer wieder verschoben.
Die Verhaftung
Am 30. April 1917 wird Meşale Tolu in ihrer Istanbuler Wohnung um 4.30 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Sie ist dort allein mit ihrem 28 Monate alten Sohn Serkan. Eine Spezialeinheit der Polizei, maskiert und mit Maschinenpistolen bewaffnet, stürmt ihre Wohnung.
Meşale Tolu schreibt in ihrem Buch „Mein Sohn bleibt bei mir“ über ihre Verhaftung:
„… Vom Hausflur drangen Lärm und laute Stimmen zu mir, Tritte und dumpfe Schläge. Ein Krachen, wieder ein Krachen. Als wollte jemand unsere Türe aufbrechen. Jetzt hörte ich Männerstimmen brüllen: „Polizei! Mach die Türe auf! Mach auf!“ Ich sprang aus dem Bett, lief in den Flur und rief: „Ich mach‘ ja auf, schreien Sie nicht so, es ist ein kleines Kind in der Wohnung!“ Dann schob ich den Riegel zurück. Im selben Moment krachte die Tür auf, ich sprang unwillkürlich zur Seite, um nicht verletzt zu werden. Dunkel gekleidete Männer mit schwarzen Masken vor dem Gesicht schoben sich in den Flur, zwei richteten ihre Maschinengewehre auf mich. Die Ziellampen an ihren Gewehren blendeten in der Dunkelheit meine Augen. Ich erkannte nur die Waffen. Sie drückten mich zu Boden und einer setzte mir sein Knie in den Rücken, um mich zu fixieren. „Nein!“, schrie ich, als die Männer in die Zimmer unserer Wohnung stürmten, „nicht dort hinein, da schläft mein Sohn! Bitte lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!“ Aber schon drängten mehrere Männer mit hoch gerissenen Maschinengewehren in unser Schlafzimmer. „Mama, Mama, Mama!“, hörte ich Serkans Hilferufe.
Sein Schreien, sein Weinen waren so voller Angst und Panik, wie ich es noch nie gehört hatte. Kein Wunder! Er war nicht nur brutal aus dem Schlaf gerissen worden, er war völlig allein, ich war nicht an seiner Seite und um ihn standen furchteinflößende maskierte Männer mit Gewehren. „Lassen Sie mich zu meinem Sohn! Sie hören doch, welche Angst er hat! Ich bin alleine mit ihm, es ist sonst niemand da!“, rief ich. „Wo ist denn dein Ehemann?“, erhielt ich höhnisch zur Antwort. Wütend schrie ich: „Ihr habt ihn doch festgenommen. Was wollt ihr denn noch?“ Statt einer Antwort schlug ein Maskierter meinen Kopf auf den Boden. Dann knurrte er: „Schrei´ uns nicht an. Hast du verstanden? Schrei´ uns niemals an!“ Sein Kumpan drückte sein Knie noch fester in meinen Rücken. In diesem Moment rannte Serkan aus dem Zimmer auf dem Flur. Schluchzend stürzte er direkt auf mich zu. Was hat er gedacht, als er mich so am Boden liegen sah und diesen maskierten Mann mit seinem Knie auf meinem Rücken? Serkan zitterte am ganzen Leib, er versuchte zu sprechen, aber brachte keinen Ton heraus. Er schluchzte und weinte nur, als er sich zu mir hinunterbeugte.”
Meşales Bitten sind vergeblich. Die Wohnung wird verwüstet bei der Suche nach Beweismaterial für eventuelle Anschuldigungen. Ein Nachbar wird befragt, er soll bezeugen, dass in der Wohnung konspirative Treffen stattgefunden hätten. Der Nachbar verneint und versichert, dass neben ihm eine ganz normale Familie wohne. Die Polizisten verhaften Meşale und erlauben ihr nur noch, Kleidung für einige Tage einzupacken. Sie darf ihren Sohn nicht mehr ankleiden, sie muss ihn weinend beim Nachbarn zurücklassen und bittet diesen, ihren Vater und ihre Schwester zu benachrichtigen. So wird sie ins Polizeigefängnis gebracht.
Was war geschehen?
Meşale Tolu ist eine deutsche Journalistin und Übersetzerin mit kurdischen Wurzeln. In Deutschland (Ulm) aufgewachsen, nach einem Spanisch– und Ethik-Studium an der Frankfurter Goethe-Universität, begann sie 2014 monateweise auch in der Türkei als Journalistin für den privaten Radiosender Özgür Radyo zu arbeiten und machte Übersetzungen für die linke Nachrichtenagentur ETHA. 2007 hatte sie die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen und die türkische abgegeben. Da sie deutschsprachig aufgewachsen war, musste sie ihre Kenntnisse der türkischen Sprache erst noch vervollständigen, bevor sie in der Türkei arbeiten konnte.
Ihr Mann Suat Çorlu war drei Wochen vor ihr bei seinem Aufenthalt in Ankara verhaftet worden. Er hatte dort in der Zentralen Wahlkommission der HDP (Halkların Demokratik Partisi — Demokratische Partei der Völker) gearbeitet.
Die Vorwürfe gegen Meşale Tolu wurden zum Teil nicht einmal ihren Anwälten mitgeteilt, da die Akte einen „Geheimhaltungsbefehl“ enthielt. Eine Benachrichtigung der deutschen konsularischen Vertretung unterblieb, was ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Es blieb nicht der einzige Verstoß.
Die Folgen des Putschversuches von 2016
In der Türkei begann nach dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 eine Verhaftungswelle u.a. gegen JournalistInnen, AutorInnen und LehrerInnen. Im November 2016 geriet die Opposition ins Visier der Staatsmacht. Die HDP (als Partei für Minderheitenrechte, insbesondere für die Rechte der kurdischen Minderheit) hatte 2015 mit 80 von 550 Abgeordnetensitzen einen großen Erfolg erlangt.
Im Jahr 2017 stand das Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems an, mit dem Präsident Recep Tayyip Erdoğan umfassende Macht an der Spitze von Staat und Regierung erlangen wollte — und schließlich auch erlangte. Die Oppositionsführer Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ wurden verhaftet und befinden sich nach wie vor im Gefängnis. Die politische Verfolgung wird weiter betrieben. Im April diesen Jahres begann der Prozess gegen 108 Abgeordnete und Mitglieder der HDP.
Im Gefängnis
In der Zelle des Polizeipräsidiums trifft Meşale andere Frauen, die aus politischen Gründen verhaftet wurden. Die Solidarität gibt ihr Kraft beim Hungerstreik und auch gegen den Psychoterror bei unrechtmäßigen Verhören. Ihr wird gedroht, dass sie auch bei einer Freilassung mit Verfolgung rechnen müsse: „Sie hätten ansonsten ihre Mittel.“ Als Grund für die Inhaftierung führt der Staatsanwalt an, man habe verhindern wollen, dass die Frauen mit Molotowcocktails und schweren Waffen am 1. Mai auf dem Taksimplatz demonstrieren und Unruhe stiften. Am 1. Mai kommt es immer wieder zu Verhaftungen, weil sich Menschen nicht an das Demonstrationsverbot halten und an das Massaker von 1977 erinnern, bei dem 34 Menschen von unbekannten Scharfschützen erschossen wurden oder im Gedränge zu Tode kamen.
Nach einigen Tagen findet eine Anhörung statt, bei der Meşale erstmalig von den Anschuldigungen erfährt: Ihr wird die Teilnahme an vier Gedenkfeiern und Demonstrationen vorgeworfen. Diese Veranstaltungen waren vollkommen legal, jede/r hätte daran teilnehmen können. Außerdem wurde ihr die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, der MLKP vorgeworfen, belegt durch einen anonymen Zeugen.
Sie wird schließlich in das Frauengefängnis Bakırköy in die Zelle B6 für politische Häftlinge verlegt. Hier befindet sie sich in einer großen Gemeinschaftszelle mit mehr als 20 inhaftierten Frauen. Es sind Frauen darunter, die schon seit über 20 Jahren im Gefängnis sind, andere sind nur für kurze Zeit dort. Neben der Gemeinschaftszelle gibt es „maisonetteartig“ angelegte kleine Schlafzellen, die jeweils mit zwei Frauen belegt sind. Eine große Solidaritätsgemeinschaft empfängt Meşale. Sie wird regelrecht umsorgt von den anderen Frauen, um die erste schwere Zeit im Gefängnis besser zu verkraften. Mit viel Einfallsreichtum wird der Tag in der kargen Anstalt gestaltet. So zeigt ihr z.B. ihre Zellengenossin, wie sie an dem kleinen Waschbecken mithilfe einer Plastikflasche duschen kann. Das Loch, das mit einem Feuerzeug in die Flasche gebrannt wurde, leitet den Wasserstrahl über den Waschbeckenrand und dann kann sie sich darunter kauern, um ihre Haare zu waschen.
Meşale macht sich große Sorgen um ihren Sohn. Lange kann sie nichts über ihre Familie erfahren. Als sie schließlich hört, dass es Serkan sehr schlecht geht, er kaum redet, stottert und wütend ist, beschließt sie, ihn zu sich zu holen. Sie hatte vorher im Gefängnis lachende Kinder erlebt, so dass sie diesen Schritt wagte. Die Frauen ihrer Zelle unterstützen sie nach Kräften. Trotzdem ist das Leben im Gefängnis für Serkan sehr einschränkend. Er darf nur wenig Spielzeug haben, der Hof ist hart und ohne Spielmöglichkeiten für ein kleines Kind. Zweimal darf er seinen Vater im Gefängnis in Silivri besuchen. Nach fünf Monaten im Gefängnis sehnt sich Serkan nach der Freiheit und verlässt das Gefängnis, um mit seinem Opa und seiner Tante nach Deutschland zu fliegen. Sosehr Meşale ihren Sohn vermisst, sosehr versteht sie ihn auch.
Freiheit für Meşale Tolu
Inzwischen hatte sich eine breite Unterstützungsbewegung für Meşale Tolu gebildet. FreundInnen und UnterstützerInnen demonstrierten jeden Freitag für ihre Freilassung.
Presseberichte, Demonstrationen und Mahnwachen, Solidaritätsbekundungen von LehrerInnen und MitschülerInnen ihres Ulmer Gymnasiums, Petitionen und Autokorsos fanden statt. Vieles erfuhr Meşale erst, als schließlich eine Vertretung des deutschen Generalkonsulats in Istanbul eine Besuchserlaubnis bekam (bis dahin waren aber schon zwei Monate verstrichen). Die Briefe und Karten aus aller Welt erreichten sie im Gefängnis. Von Deutschland bis Japan, aus Spanien und auch Irland kam die Post. Meşale war überwältigt.
Der Prozessbeginn – Verteidigung
Für den 11. Oktober wurde der Prozess in Silivri angesetzt. In der türkischen Presse wird berichtet, dass für die deutsche Journalistin Meşale Tolu 15 Jahre Haft gefordert werden.
Meşale vermutet, dass ihre Verteidigungsrede für das Gericht ohne Bedeutung sein wird, entschließt sich aber doch, diese Rede für „die Welt draußen”, ihre vielen Unterstützerinnen und Unterstützer zu halten. Alle sollen ihre Seite der Geschichte erfahren.
… Sie behaupten, ein Geheimzeuge würde bestätigen, dass ich mich 2014 und 2015 ständig im Stadtteil Gazi aufgehalten hätte, um dort für eine Terrororganisation zu arbeiten. Was für ein Unsinn. Am Beginn des fraglichen Zeitraums war mein Sohn fünf Monate alt. Der Geheimzeuge kennt anscheinend die große Entfernung zwischen den Stadtteilen Gazi und Kartal nicht, wo ich wohne, wenn ich mich in Istanbul aufhalte; und von Kleinkindern versteht er vermutlich auch nichts. Zu behaupten, ich sei regelmäßig mit einem fünf Monate alten Baby zwischen der anatolischen und europäischen Seite Istanbuls hin und her gependelt, zeigt, dass seine Aussage frei erfunden ist. Den Stadtteil Gazi habe ich in den vergangenen drei Jahren höchstens viermal betreten. Jeder vernünftige Mensch würde auf den ersten Blick verstehen, dass die Aussage des ominösen Zeugen haltlos ist. Warum der Besuch von legalen Beerdigungs– und Gedenkfeiern in den Jahren 2014 und 2015 mir im Jahre 2017 als Verbrechen angelastet wird, dazu komme ich jetzt: Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, demokratische Rechte und die Pressefreiheit wurden aufgehoben. Am meisten hatte die Presse darunter zu leiden. Dutzende Fernsehkanäle und Zeitungen wurden per Notstandsdekret verboten, hunderte Journalisten und Pressemitarbeiter festgenommen. Der Journalismus ist in schweren Zeiten der erste Beruf, der von den Herrschenden ins Visier genommen wird. Das können wir vor allem an den Razzien gegen die Zeitungen Cumhuriyet und Özgür Gündem feststellen. Der Bericht des türkischen Journalistenverbandes benennt die Beschränkung der Presse– und Meinungsfreiheit als das ernsteste Problem unserer Zeit. Journalisten können ihren Job nicht frei von Repression ausüben, Zeitungen und Fernsehanstalten werden unter Druck gesetzt, wenn sie von ihrem Recht auf Kritik Gebrauch machen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass in einer Demokratie die Medien als vierte Kraft gelten, dann ist es nicht falsch zu behaupten, dass die Demokratie in diesem Land schwer verwundet wird. Gegenwärtig sind etwa 180 Pressemitarbeiter in Haft, und die Türkei liegt im Ranking der Pressefreiheit auf den letzten Plätzen. …
In der Anklageschrift wirft man mir vor, ich hätte mich an Gedenkfeiern beteiligt, die für Menschen organisiert wurden, die im Kampf gegen den Islamischen Staat ihr Leben verloren haben. Die Barbarenbande IS hat in der Türkei und in vielen Teilen der Welt tausende Menschen ermordet und fährt damit fort. Ich sehe es nicht als ein Verbrechen an, der Menschen zu gedenken, die gegen den IS gekämpft haben. Schließlich ist die Türkei als NATO-Land auch Mitglied der Internationalen Koalition, die den IS zerschlagen will. Daher verstehe ich nicht, weshalb die Türkei, die vorgibt, gegen den IS zu kämpfen, so intolerant gegenüber Menschen ist, die Beerdigungen von Anti-IS-Kämpfern beiwohnen. In vielen Ländern der Welt wird dieser Menschen ehrenvoll gedacht. …
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Sie seit 160 Tagen, also seit dem 30. April [2017], als meine Untersuchungshaft angeordnet wurde, den Akten rein gar nichts hinzugefügt haben. Mit der Begründung, es seien noch nicht alle Beweismittel gesammelt, verlangte man damals die Fortführung meiner Untersuchungshaft. Und Sie haben seitdem kein einziges Beweismittel hinzufügen können! Ich stelle noch einmal fest: Ich habe nichts verbrochen. Hätte die Staatsanwaltschaft mich befragen wollen, wäre ich freiwillig hingegangen. Meine Wohnung und mein Arbeitsplatz waren ihr bekannt. Als Pressemitarbeiterin bin ich ständig erreichbar gewesen. Und in meiner Wohnung hat die Polizei nichts von dem gefunden, was sie angeblich zu finden gehofft hatte. Ich will, dass Sie sich all diese Fakten vor Augen halten. Ich fordere meinen Freispruch und meine Freilassung.
Für Meşale Tolu wird die Fortführung der Untersuchungshaft angeordnet. Sie wird wieder nach Bakırköy ins Frauengefängnis überführt.
Der nächste Verhandlungstag findet am 18. Dezember 2017 statt. Inzwischen ist der internationale Druck sehr groß geworden, wodurch der deutsche Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner im Oktober freigelassen wurde. Auch Meşales Mann Suat wurde im November 2017 freigelassen. Die Hoffnungen auf Freilassung nach nunmehr acht Monaten sind riesengroß, besonders auch, weil der hauptamtliche Richter durch seinen Stellvertreter ersetzt wurde. Tatsächlich fordert der Staatsanwalt die Freilassung aller Angeklagten. Unter dem Jubel der ZuschauerInnen geht unter, dass für Meşale Tolu Auflagen erteilt werden.
Die Einschüchterungsversuche sind nicht beendet
Meşale Tolu wird trotzdem noch festgehalten und von den Polizisten der Antiterroreinheit „entführt“. Man lässt sie nicht zu ihrer Familie und ihren UnterstützerInnen, sondern versucht sie abzuschieben. Nach einer langen Tour durch Istanbuls Polizeistationen wird sie schließlich vom deutschen Konsul Michael Erdmann, Günter Wallraff und anderen in der Polizeistation in Fatih gefunden und befreit.
Meşale muss sich acht Monate lang wöchentlich bei einer Polizeistation melden. Bei mehreren Gelegenheiten wird sie von Polizisten der Antiterroreinheit und von Zivilpolizisten beobachtet. Eine weitere Razzia führt zur erneuten Verhaftung ihres Mannes Suat, der dann nach 7 Tagen wieder freigelassen wird.
Im August 2018 bekommt Meşale endlich die Ausreisegenehmigung; sie landet am 26. August 2018 mit ihrem Sohn Serkan in Stuttgart.
Der nächste Prozesstermin ist für den 16.10.2018 angesetzt worden. Er wird weiter verschoben. Der Prozesstermin vom Februar 2021 wurde inzwischen auf den 16./17. September 2021 verschoben.
Die Verhaftungswelle in der Türkei, die im Juli 2016 begann, betrifft inzwischen weit mehr als 100.000 Menschen. In den überwiegenden Fällen wird ihnen die Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
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