Zur Lage der Mei­nungs­frei­heit in Ägypten

Vom Ara­bi­schen Früh­ling bis heute – eine bit­tere Bilanz

Am 17. Dezem­ber 2010 zün­dete sich der tune­si­sche Gemü­se­händ­ler Moha­med Boua­zizi selbst an, um gegen Poli­zei­will­kür und die Poli­tik sei­ner Regie­rung zu pro­tes­tie­ren. Der Funke des Pro­tests sprang über von Tune­sien bis Ägypten.

Der Auf­stand in Ägyp­ten beginnt am 25. Januar 2011, dem „Tag des Zorns“. Hun­dert­tau­sende for­dern auf dem Tahrir-Platz „Brot und Würde, das Ende von Behör­den­will­kür, Kor­rup­tion und Ungleich­heit“. Der Sicher­heits­ap­pa­rat schlägt bru­tal zurück: Hun­derte Men­schen ster­ben, doch die Pro­test­welle, an der sich auch unge­wöhn­lich viele Frauen betei­li­gen (unge­wöhn­lich für den ara­bi­schen Raum), lässt sich nicht mehr stop­pen. Nach 18 Tagen wird der Rück­tritt von Husni Muba­rak von jubeln­den Demonstrant*innen gefeiert.

Ein Mili­tär­rat über­nahm die Macht. Er wurde nach den Wah­len 2012 von der Mus­lim­bru­der­schaft und ihrem Prä­si­den­ten Moham­med Mursi abge­löst. Anhal­tende Pro­teste, ins­be­son­dere, als die ver­fas­sungs­ge­bende Ver­samm­lung „Grund­sätze der Scha­ria“ in die Ver­fas­sung auf­neh­men wollte, führ­ten zu einem Mili­tär­putsch. Die Neu­wah­len 2014 brach­ten Abd al-Fattah al-Sisi an die Macht, unter den Mursi-Anhängern rich­tete er ein Blut­bad an. Seit­her regiert er mit eiser­ner Hand; die müh­sam eroberte Demo­kra­tie in Ägyp­ten ist Geschichte. Tau­sende har­ren in über­füll­ten Zel­len aus, es wird nach­weis­lich gefol­tert, wie Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen berich­ten. Men­schen wer­den ver­schleppt, den Gefan­ge­nen wird eine ange­mes­sene medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ver­wei­gert, sodass laut Amnesty Inter­na­tio­nal „min­des­tens 35 Men­schen in der Haft oder kurz nach ihrer Frei­las­sung star­ben“. Wäh­rend der Pan­de­mie kam ein wei­te­rer Haft­grund für kri­ti­sche Journalist*innen dazu: jeg­li­che Bericht­er­stat­tung, die nicht den Ver­laut­ba­run­gen des Minis­te­ri­ums ent­sprach, wurde ange­zeigt, mit Fest­nahme oder Aus­wei­sung bestraft. Die Situa­tion änderte sich auch nicht, als der Aus­nah­me­zu­stand 2021 auf­ge­ho­ben wurde.

Ist Asmaa Mah­fouz verstummt?

Asmaa ist nicht zu errei­chen! Sie geht nicht ans Tele­fon, wenn sie die Num­mer nicht kennt, ant­wor­tet nicht auf Mails und schrift­li­che Anfra­gen. Sie tritt nicht mehr in der Öffent­lich­keit auf. Asmaa Mah­fouz erhielt 2011 zusam­men mit ande­ren Aktivist*innen des Ara­bi­schen Früh­lings den Sacharow-Preis des Euro­päi­schen Par­la­ments für die Ver­tei­di­gung der Men­schen­rechte und der Mei­nungs­frei­heit. Unter den Aus­ge­zeich­ne­ten war auch der tune­si­sche Gemü­se­händ­ler Moha­med Boua­zizi, der den Preis post­hum erhielt.  

Als der Funke der tune­si­schen Revo­lu­tion Anfang 2011 auf Ägyp­ten über­sprang, trotzte Asmaa dem har­ten Durch­grei­fen des Regimes von Husni Muba­rak gegen Aktivist*innen und ver­öf­fent­lichte auf Platt­for­men sozia­ler Medien Auf­rufe an „alle ech­ten Ägyp­ter“, auf dem Tahrir-Platz fried­lich für Frei­heit, Men­schen­rechte und men­schen­wür­dige Ver­hält­nisse zu demons­trie­ren. Sie rief dazu auf, durch die eigene Teil­nahme, sie und andere Frauen vor den Sicher­heits­kräf­ten zu schüt­zen. Ihr Auf­ruf wurde 80 Mil­lio­nen Mal ange­klickt und ani­mierte wei­tere Nutzer*innen ähn­li­che Videos zu star­ten, was schließ­lich zu den Mas­sen­pro­tes­ten auf dem Tahrir-Platz führte. In ihrer Rede zur Preis­ver­lei­hung bedankte sie sich mit den Wor­ten: „Diese Aus­zeich­nung geht an alle jun­gen Ägyp­ter, an Men­schen, die ihr Leben geop­fert haben“. Sie ver­sprach, sich dafür ein­zu­set­zen, dass deren Träume erfüllt werden.

Asmaa wurde im Okto­ber 2011 nach dem Sturz Muba­raks von der Mili­tär­füh­rung wegen Ver­leum­dung fest­ge­nom­men. Das Urteil von 2012 wurde vor­läu­fig nicht voll­streckt. Nach der Macht­über­nahme von Abd al-Fattah al-Sisi war Asmaa zuneh­mend Bedro­hun­gen, Gewalt und Über­wa­chung aus­ge­setzt. Im April 2014 erfolgte das Ver­bot der Jugend­be­we­gung des 6. April, der Asmaa ange­hörte. Drei der Anfüh­rer wur­den zu drei­jäh­ri­gen Haft­stra­fen ver­ur­teilt u.a. wegen ille­ga­ler Pro­teste. Asmaa gab den­noch nicht auf. Sie enga­gierte sich zukünf­tig in der neuen Bewe­gung Bid­daya (Anfang). Prompt folg­ten Ermitt­lun­gen gegen sie und die Gründer*innen der Bewe­gung wegen Staats­ge­fähr­dung. Sie erhielt Rei­se­ver­bot und konnte spä­ter auch nicht an der Feier zum 30. Jah­res­tag des Sacharow-Preises teil­neh­men. Das Euro­päi­sche Par­la­ment war davon über­zeugt gewe­sen, dass der Preis seine Preisträger*innen vor Repres­sion schüt­zen würde, doch es zeigte sich, dass al-Sisi sich nicht von den Beschwer­den beein­dru­cken ließ. Im Gegen­teil: Im Jahre 2018 wurde gegen Asmaa Mah­fouz wegen des Erhalts des Sacharow-Preises Anklage erho­ben. Der Preis sei eine „uner­wünschte Form aus­län­di­scher Ein­fluss­nahme auf die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten Ägyp­tens“. Die Ver­ur­tei­lung von 2012 zu einem Jahr Zwangs­ar­beit besteht nach wie vor. Sie wurde noch nicht voll­streckt, weil nach Pro­tes­ten vie­ler Aktivist*innen die Kau­tion von 20 000 ägyp­ti­schen Pfund akzep­tiert wurde, die ein rei­cher Geschäfts­mann für Asmaa hin­ter­legt hat.

Es gibt keine freie Presse mehr, aber viele Journalist*innen geben nicht auf

Infor­ma­tio­nen zu den will­kür­li­chen Ver­haf­tun­gen sind in den offi­zi­el­len Pres­se­or­ga­nen nicht zu fin­den. Die unab­hän­gige Nach­rich­ten­web­site al-Manassa wurde am 24. Juni 2020 von Sicher­heits­kräf­ten gestürmt und ihre Chef­re­dak­teu­rin vor­über­ge­hend fest­ge­setzt. Im April schal­te­ten die Behör­den die Nach­rich­ten­seite Darb ab. Hun­derte Web­sites sind inzwi­schen ver­bo­ten bzw. bei ägyp­ti­schen Pro­vi­dern blo­ckiert. Ebenso erging es 2017 der unab­hän­gi­gen eng­lisch– und ara­bisch­spra­chi­gen Inter­net­zei­tung Mada Masr. Sie wurde von Jour­na­lis­tin­nen gegrün­det, als 2013 deren Zei­tung Egypt Inde­pen­dent schlie­ßen musste. Mit gro­ßem Auf­wand, um z.B. die Finan­zie­rung zu sichern, star­te­ten die enga­gier­ten Frauen ihr Pro­jekt. Im Novem­ber 2019 wur­den die Redak­ti­ons­räume einer Raz­zia unter­zo­gen, ver­mut­lich weil die Chef­re­dak­teu­rin Linah Attalah zuvor einen kri­ti­schen Arti­kel über den Sohn des Prä­si­den­ten geschrie­ben hatte, der damals dem Geheim­dienst ange­hört haben soll. Der Raz­zia folgte die größte Ver­haf­tungs­welle seit Prä­si­dent al-Sisi 2014 offi­zi­ell an die Macht gekom­men war. Linah Attalah wurde mehr­fach ver­haf­tet, doch die Gruppe Mada Masr, inzwi­schen aus Frauen und Män­nern beste­hend, gibt nicht auf. Auf Face­book, Ins­ta­gram und Twit­ter errei­chen sie ihre Leser*innen und ver­sor­gen sie mit den neu­es­ten Nachrichten.

Frei­heit für Sanaa Seif

Über 200 pro­mi­nente Schauspieler*innen, Filmemacher*innen und Schriftsteller*innen for­der­ten die sofor­tige Frei­las­sung von Sanaa Seif. Die Auto­rin, Akti­vis­tin und Fil­me­di­to­rin wurde ver­schleppt und inhaf­tiert. Sie ist unter ande­rem bekannt durch ihre Arbeit an dem Oscar-nominierten Film „The Square“ und dem preis­ge­krön­ten Film „In the Last Days of the City“.

Was war geschehen?

Sanaa war­tete im Juni 2020 zusam­men mit ihrer Mut­ter und ihrer Schwes­ter vor dem Tora-Gefängnis in Kairo, um einen Brief ihres Bru­ders Alaa Abd el-Fattah zu erhal­ten, der dort seit Sep­tem­ber 2019 inhaf­tiert war. Alaa ist eine der pro­mi­nen­tes­ten und unab­hän­gigs­ten Stim­men der Revo­lu­tion von 2011. Die drei Frauen wur­den von einem Mob unter den Augen der Poli­zei ange­grif­fen, bestoh­len und ver­letzt. Die anwe­sen­den Poli­zis­ten grif­fen nicht nur nicht ein, son­dern feu­er­ten den Mob auch noch zu wei­te­ren Angrif­fen an. Am nächs­ten Tag, als die Frauen Anzeige erstat­ten woll­ten, wurde Sanaa von Poli­zis­ten in Zivil in einen nicht gekenn­zeich­ne­ten Mini­bus gezerrt und zur Obers­ten Staats­an­walt­schaft für Staats­si­cher­heit in Ägyp­ten gebracht. Diese ist berüch­tigt dafür, poli­ti­sche Geg­ner– und Kritiker*innen wegen unbe­grün­de­ter „Terrorismus“-Anklagen in ver­län­ger­ter Unter­su­chungs­haft zu hal­ten. Sanaa wurde inhaf­tiert. Die Vor­würfe: „Ver­brei­tung fal­scher Nach­rich­ten“, „Anstif­tung zu ter­ro­ris­ti­schen Ver­bre­chen“ und „Miss­brauch sozia­ler Medien“. Im März 2021 wurde sie zu andert­halb Jah­ren Gefäng­nis verurteilt.

Alaa Abd el-Fattah, der Bru­der von Sanaa Seif — eine Ikone der Protestbewegung

Dem inhaf­tier­ten Blog­ger und Akti­vis­ten Alaa Abd el-Fattah wurde im April 2022 die bri­ti­sche Staats­bür­ger­schaft zuer­kannt. 2019 bean­trag­ten Alaa und seine Schwes­tern Mona und Sanaa Seif die bri­ti­sche Staats­bür­ger­schaft über ihre Mut­ter Laila Seif, die im Mai 1965 in Lon­don gebo­ren wurde.

Nun for­dert Alaa Abd el-Fattah eine bri­ti­sche Unter­su­chung der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in sei­ner Haft und den Zugang von bri­ti­schen Konsulatsbeamt*innen zum Gefäng­nis. Alaa war seit 2013 mehr­fach in Haft. Er wurde ohne Gerichts­ver­fah­ren zwei Jahre lang in Unter­su­chungs­haft gehal­ten, die gesetz­lich zuläs­sige Höchst­dauer nur für die schwers­ten Ver­bre­chen. 2019 wurde er in einer Poli­zei­sta­tion in Gizeh fest­ge­nom­men, wo er im Rah­men einer Bewäh­rungs­maß­nahme jeden Abend in einer Zelle ver­brin­gen musste. Die Ver­haf­tung erfolgte mut­maß­lich wegen der Ver­brei­tung einer Nach­richt über die Fol­te­rung und den Tod eines Mit­ge­fan­ge­nen. Eine Urteils­be­grün­dung gibt es nicht, die Ver­tei­di­gung wurde nicht gehört und eine Beru­fung ist nicht mög­lich. „Bei sei­ner Ankunft im Tora-Gefängnis wurde er aus­ge­zo­gen, ihm wur­den die Augen ver­bun­den, er wurde geschla­gen und bedroht“. Seit 2019 sei er „in einer Zelle ohne Son­nen­licht, ohne Bücher, ohne Bewe­gung fest­ge­hal­ten wor­den“, teilte die Fami­lie dem Nach­rich­ten­por­tal Mada Masr mit (Arti­kel vom 11. April 2022). Seit Beginn des Rama­dan befin­det sich Alaa im Hun­ger­streik, um sei­nen For­de­run­gen Nach­druck zu verleihen.

Neu­este Nachrichten

Die unab­hän­gige eng­lisch– und ara­bisch­spra­chige Internet-Zeitung Mada Masr schreibt am 10. April 2022:

Wirt­schafts­for­scher Ayman Had­houd in der Haft gestorben

Der Wirt­schafts­for­scher Ayman Had­houd ver­schwand, seit dem 5. Februar wurde er ver­misst. Einen Monat nach sei­nem Tod in der Haft­an­stalt der staat­li­chen psych­ia­tri­schen Kli­nik von Abbas­seya wurde seine Fami­lie infor­miert, dass er aus unge­klär­ten Grün­den ver­stor­ben sei.

Mada Masr, 21. April 2022:

Bau eines Gefäng­nis­kom­ple­xes im Sinai für bis zu 20 000 Häftlinge

Bereits min­des­tens 16 neue Gefäng­nisse wur­den in der Sisi-Ära gebaut. Ist der Bedarf immer noch nicht gedeckt?

Mada Masr, 24. April:

Sechs poli­ti­sche Häft­linge wur­den frei­ge­las­sen, wei­tere Frei­las­sun­gen sol­len folgen

Min­des­tens sechs poli­ti­sche Häft­linge, die jah­re­lang ohne Gerichts­ver­fah­ren oder Ermitt­lun­gen inhaf­tiert waren, wur­den am Sonn­tag auf Anord­nung der Staats­an­walt­schaft frei­ge­las­sen. Ein Mit­glied des Natio­nal­rats für Men­schen­rechte berich­tete, dass wei­tere 41 poli­ti­sche Gefan­gene frei­ge­las­sen wer­den sollen.

Die Men­schen­rechts­si­tua­tion in Ägyp­ten wurde nach dem auf­se­hen­er­re­gen­den Tod des Wirt­schafts­for­schers Ayman Had­houd und dem Hun­ger­streik von eini­gen poli­ti­schen Gefan­ge­nen in den letz­ten Wochen von den USA ver­stärkt unter die Lupe genom­men. Die US-Regierung hat kon­se­quent einen klei­nen Teil ihrer jähr­li­chen Ver­tei­di­gungs­zu­sa­gen (1,3 Mil­li­ar­den Dol­lar) ein­be­hal­ten, 2021 waren dies 130 Mil­lio­nen US-Dollar. Sie sol­len erst aus­ge­zahlt wer­den, wenn recht­li­che Unter­su­chun­gen gegen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und die Ankla­gen gegen 16 Per­so­nen fal­len gelas­sen wer­den. Den­noch geneh­migte die US-Regierung Anfang die­ses Jah­res einen Waf­fen­ver­kauf im Wert von 2,5 Mil­li­ar­den Dollar.

Deutsch­land­funk, Januar 2022:

Die Bun­des­re­gie­rung geneh­migt im Jahr 2021 Rüs­tungs­ex­porte nach Ägyp­ten im Wert von mehr als vier Mil­li­ar­den Euro

Ägyp­ten liegt nun auf Platz zwei deut­scher Rüs­tungs­ex­porte. Dass ein deut­scher Regie­rungs­spre­cher kürz­lich erklärte, die Men­schen­rechts­lage sei noch ver­bes­se­rungs­wür­dig, dürfte Sisi eher wenig beein­dru­cken, meint Mar­kus Bickel von Amnesty International.

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