Fort­set­zung

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Pro­teste gegen Bür­ger­schafts­ge­setz, 2019


Ein wei­te­rer Schritt im suk­zes­si­ven Abbau von Zivil­rech­ten ist die Finanzierungs-Daumenschraube. Viele NGOs bezie­hen auch aus dem Aus­land För­der­mit­tel – das wurde 2020 mit einer Geset­zes­än­de­rung mas­siv erschwert. Dem folg­ten Ver­bote inter­na­tio­na­ler NGOs: Amnesty Inter­na­tio­nal musste 2020 Indien ver­las­sen. OXFAMs Arbeit in Indien ist seit Anfang 2022 von die­sem Gesetz erfasst. Selbst das apo­li­ti­sche, von Mut­ter The­resa gegrün­dete Für­sor­ge­hilfs­werk darf seit Anfang die­ses Jah­res keine aus­län­di­schen Finanz­mit­tel anneh­men.

Modis Bha­ra­tiya Janata Par­tei (BJP) ist bekannt­lich einem fana­ti­schen Hin­du­is­mus ver­schrie­ben, seine poli­ti­sche Basis, die RSS, ein Frei­wil­li­gen­korps, laut eini­ger Beob­ach­ter nach dem Vor­bild der Hit­ler­ju­gend organ­siert. Die indi­sche Schrift­stel­le­rin Arund­hati Roy beschreibt, wie das Bür­ger­rechts­ge­setz den Nürn­ber­ger Ras­se­ge­set­zen ent­spricht. Die­ser Demo­kra­tie­ab­bau beschleu­nigt sich; des­we­gen wollte die indi­sche Freun­din sich die Genese des deut­schen Faschis­mus anschauen.

Arund­hati Roy wäh­rend ihrer Rede (2014) “The Doc­tor and the Saint — The Ambedkar-Gandhi Debate” . Screen­shot ihrer Rede auf youtube

Aber es geht tie­fer: Modis Poli­tik der geziel­ten Aus­gren­zung und Unter­drü­ckung dockt an einer Ideo­lo­gie an, die von einem tag­täg­li­chen Ras­sis­mus durch­drun­gen ist. Das Kas­ten­sys­tem in Indien presst Men­schen in eine angeb­lich ange­bo­rene Hier­ar­chie, mit einem ver­meint­li­chen „oben“ und „unten“, ein Sys­tem, das durch die Ver­fas­sung von 1948 über­tüncht, aber nie aus­ge­he­belt wurde. Dazu hat Arund­hati Roy elo­quent geschrie­ben – sie ana­ly­siert, dass der welt­weit fast wie ein Hei­li­ger ver­ehrte Mahatma Gan­dhi das Kas­ten­sys­tem ver­fes­tigt hat: es ging ihm nicht darum, diese, die Men­schen­würde ver­ach­tende, Sozi­al­hier­ar­chie abzu­schaf­fen, son­dern ledig­lich sie kla­rer zu orga­ni­sie­ren. Er befand sie als kon­form mit sei­nem patri­ar­cha­li­schen hin­du­is­ti­schen Glauben.

NGOs haben kürz­lich in einer Feld­stu­die 20 beson­ders benach­tei­ligte Grup­pen aus­ge­macht:  unter ihnen die unter­drückte  Kaste der Dalit, und auch noma­di­sche und indi­gene Gemein­schaf­ten, reli­giöse Min­der­hei­ten, LGBTQI –Grup­pen, Frauen in vul­nera­blen Beru­fen wie Sex­ar­beit, Men­schen, die mit einer Behin­de­rung leben, und Sklavenarbeiter*innen. Und all­ge­mein Frauen, die in Armut leben und der Dalit-Kaste angehören.

Die Aus­gren­zun­gen und Benach­tei­li­gun­gen – in Bezug auf Arbeit, Ernäh­rung, Bil­dung, Gesund­heit, Wohn­ver­hält­nisse, Zugang zu Was­ser und Strom – dau­ern an, sind zemen­tiert, ver­tie­fen sich. Und dass trotz der Ver­spre­chen der Ver­fas­sung und der Bildungs-, Gleich­stel­lungs– und Sozi­al­po­li­tik. Zum Bei­spiel ist Spra­chen­viel­falt in den indi­schen Bun­des­staa­ten erlaubt – ein posi­ti­ver Gegen­ent­wurf zur Poli­tik in so vie­len Nachbarländern.

Auch gibt es seit den 50er Jah­ren Quo­ten an Arbeits­plät­zen und Uni­ver­si­tä­ten für benach­tei­ligte Kas­ten, Indi­gene und Men­schen aus reli­giö­sen Min­der­hei­ten – die soge­nann­ten „reser­va­tions“, ein Modell, an das sich übri­gens die affir­ma­tive action in den USA der 60er Jahre anlehnte. Es gibt vie­ler­lei Sozi­al­trans­fer­pro­gramme, wie z. B. Schuls­ti­pen­dien für Mäd­chen und Kin­der der benach­tei­ligte Kas­ten, oder länd­li­che Arbeits­be­schaf­fungs­pro­gramme, mit einer Min­dest­lohn­ga­ran­tie und dem Ver­spre­chen eines Jahresmindesteinkommens.

Diese Maß­nah­men grei­fen aber nicht. Ins­ge­samt sind die sozi­al­po­li­ti­schen Pro­gramme zwar anspruchs­voll beti­telt als ‚mis­si­ons‘, und groß ange­legt, aber schon immer völ­lig unter­fi­nan­ziert, und wer­den seit der Modi-Regierung immer mehr aus­ge­höhlt.

Die domi­nante Hindu-Oberschicht unter­läuft auf allen Ebe­nen die Pro­gramme. Zum Bei­spiel sol­len Frauen aus den benach­tei­lig­ten Kas­ten einen Sitz in den länd­li­chen Kom­mu­nal­par­la­men­ten haben. Aber auf­grund ihrer poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Abhän­gig­keit von dörf­li­chen Groß­grund­be­sit­zern, ist es äußert schwie­rig, die Inter­es­sen ihrer Gruppe durchzusetzen.

Bei Gerichts­pro­zes­sen wird fast immer der domi­nan­ten Kaste recht gege­ben, sei es nach der gewalt­tä­ti­gen Land­nahme gegen einen Klein­bau­ern, sei es nach der Ver­ge­wal­ti­gung von Dalit­mäd­chen. Die Gerichts­bar­keit ist nomi­nell unab­hän­gig, in Wirk­lich­keit aber chro­nisch über­las­tet und parteiisch.

Die Freun­din weiß um die grau­same Kas­ten– und Frau­en­un­ter­drü­ckung nicht nur aus ihrer NGO-Arbeit, son­dern auch ganz per­sön­lich. Als sie dem Vater ihren Ver­lob­ten vor­stellte, sprach er zunächst nicht mit ihr, weil der junge Mann – ihr Stu­di­en­freund – aus der „fal­schen“ Kaste war.

Das Bild von Indien als der “größ­ten Demo­kra­tie der Welt” stimmt so nicht, weder im fami­liä­ren Bereich, noch auf der kom­mu­na­len Ebene, noch in der Poli­tik. Seit Jahr­zehn­ten kämp­fen pro­gres­sive NGOs des­we­gen gegen den fana­ti­sier­ten poli­ti­schen Hin­du­is­mus, und in den letz­ten Jah­ren gegen die poli­ti­sche Ver­fol­gung. Dazu gibt es viele Ideen und Aktionen.

Die Freun­din erzählt zum Bei­spiel von dem Auf­stand der Bau­ern, die sich fast ein gan­zes Jahr gegen ein Gesetz gewehrt haben, das sie dem Preis­druck indi­scher Groß­kon­zerne aus­ge­lie­fert hätte. Die Bil­der aus den Medien ken­nen wir alle – die Bau­ern der Sikh-Gemeinschaft aus dem Pun­jab – leicht erkenn­bar an ihren bun­ten Tur­ba­nen – auf ihren Trak­to­ren auf Del­his Ein­fall­stra­ßen. Die Woh­nung der Freun­din ist ganz in der Nähe des Pro­tests und sie beschreibt begeis­tert die vege­ta­ri­schen Gar­kü­chen, die die Pro­tes­tie­ren­den längs der Stra­ßen ein­rich­te­ten, wo es für alle Passant*innen gra­tis zu essen gab, egal, ob Aktivist*in oder Beobachter*in und egal, wie sie zum Pro­test stan­den. Und nach vie­len Mona­ten des Wider­stands gab das indi­sche Par­la­ment tat­säch­lich nach und wider­rief das Gesetz.

Ein ande­res Bei­spiel ist der Pro­test, der von einem Stadt­teil Del­his, Shaheen Bagh, aus­ging. Hun­derte Mus­li­mas pro­tes­tier­ten im Win­ter 2019/2020 mit fried­li­chen Sit-ins und Stra­ßen­sper­ren gegen das Staats­bür­ger­schafts­ge­setz. Andere Gemein­schaf­ten und Student*innen grif­fen die Pro­teste auf. Die Frauen vom Shaheen Bagh inspi­rier­ten Sit-ins quer durch Indien, von Bihar und Uttar Pra­desh im Nor­den bis Maha­rash­tra und Kar­nat­aka in Zentralindien.  

In Shaheen Bagh, einem süd­li­chen Stadt­teil von Delhi, pro­tes­tier­ten vor allem Frauen vom 15. Dezem­ber 2019 bis 24. März 2020. Mit Sie blo­ckier­ten über viele Wochen hin­weg eine der Haupt­stra­ßen. Der Pro­test wurde haupt­säch­lich von mus­li­mi­schen Frauen getra­gen. Er begann als Reak­tion auf die Ver­ab­schie­dung des neuen Bür­ger­rechts­ge­set­zes (CAA) am 11. Dezem­ber 2019 und die dar­auf­fol­gende Poli­zei­in­ter­ven­tion gegen Stu­den­ten der Jamia Mil­lia Isla­mia Uni­ver­si­tät, die eben­falls des­we­gen pro­tes­tiert hat­ten, Foto vom Jan. 2020.

Auf sol­che Erfolge von Wider­stand, neue Koali­tio­nen, und auf Umden­ken, setzt die Freun­din. Sie ver­weist auf die opti­mis­ti­sche Kam­pa­gne „re:imagine India“, die in vie­ler­lei Foren auf wirk­li­che Demo­kra­tie und Mei­nungs­frei­heit, Men­schen­würde und Gleich­be­rech­ti­gung in Indien hin­ar­bei­tet. Und fährt am nächs­ten Tag nach unse­ren lan­gen Gesprä­chen wei­ter zu ihrer nächs­ten Konferenz.

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Rana Ayyub (geb. 1984 in Mumbai), indische Investigativjournalistin, Muslima. Lange Zeit schrieb sie für das in Delhi ansässige kritische politische Nachrichtenmagazin Tehelka (dt. Aufruhr), seit 2019 für die „Washington Post“.
Rana Ayyub (geb. 1984 in Mum­bai), indi­sche Inves­ti­ga­ti­vjour­na­lis­tin, Mus­lima. Lange Zeit schrieb sie für das in Delhi ansäs­sige kri­ti­sche poli­ti­sche Nach­rich­ten­ma­ga­zin Tehe­lka (dt. Auf­ruhr), seit 2019 für die „Washing­ton Post“.

 

 

Titelseite der im Text erwähnten Feldstudie über 20 besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen Indiens
Titel­seite des Fly­ers der im Text erwähn­ten Feld­stu­die zu 20 beson­ders benach­tei­lig­ten Bevöl­ke­rungs­grup­pen Indiens.

 

 

Angehörige der Dallit Kaste haben die niedrigsten Arbeiten im Land.
Ange­hö­rige der Dal­lit Kaste haben die nied­rigs­ten Arbei­ten im Land.

 

 

Ländliches Arbeitsbeschaffungsprogramm.
Länd­li­ches Arbeits­be­schaf­fungs­pro­gramm im indi­schen Bun­des­staat Jhark­hand 

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Ländliches Arbeitsbeschaffungsprogramm.
Länd­li­ches Arbeits­be­schaf­fungs­pro­gramm im indi­schen Bun­des­staat Arun­achal Pradesh. 

 

Studenten der Jamia Millia Islamia Universität (Neu-Delhi) protestieren zusammen mit Einheimischen gegen das neue Bürgerrechtsgesetz (CAA). Sie blockieren eine Straße, im Hintergrund der Aufmarsch der Polizei, Dez. 2019
Stu­den­ten der Jamia Mil­lia Isla­mia Uni­ver­si­tät (Neu-Delhi) pro­tes­tie­ren zusam­men mit Ein­hei­mi­schen gegen das neue Bür­ger­rechts­ge­setz (CAA). Sie blo­ckie­ren eine Straße, im Hin­ter­grund der Auf­marsch der Poli­zei, Dez. 2019

 

 

 

Amartya Sen "Home in the world", 2021. Sen ist ein indischer Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Problematik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie.
Amar­tya Sen “Home in the world”, 2021. Sen ist ein indi­scher Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­soph. Zu sei­nen For­schungs­schwer­punk­ten gehö­ren die Pro­ble­ma­tik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie.

 

 

Tanzprojekt von Re:imagine India 2015/2016.
Tanz­pro­jekt von Re:imagine India 2015/2016.