Indien: “Die größte Demokratie der Welt“ – Stimmt dieses landläufige Etikett noch?
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Ein Gastbeitrag von Gabriele Köhler, langjährige Mitarbeiterin der UNO
Sommer 2021. Eine Freundin aus Delhi, zu Besuch in München zwischen zwei Konferenzen in Europa. Ich dachte, wir schlendern gemütlich-touristisch durch die pittoreske Münchner Altstadt oder nehmen eine S-Bahn zum Starnberger See, damit sie sich von Reise-, Panelistin– und Interview-Anstrengungen erholen kann. Sie möchte stattdessen ins NS-Dokumentationszentrum, das der Aufarbeitung des Dritten Reichs gewidmet ist.
Dort studieren wir einen ganzen Vormittag alle Schautafeln, besonders die über die Entstehungsgeschichte des Faschismus: über die Rolle von Ideologie, den Antisemitismus und die Gewalt gegen Juden und andere Minderheiten und dann gegen die politische Opposition. Wie systematisch Schritt um Schritt die Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Presse und der demokratischen Institutionen abgeschafft wurde. Die Freundin liest konzentriert. Und schweigt. Erst auf dem Nachhauseweg sagte sie: „Genauso kommt es jetzt in Indien“.
Sie leitet eine große indische Menschenrechts-NGO. Ich nenne ihren Namen nicht, denn sie muss vielleicht darum bangen, die knappen Fördermittel gestrichen zu bekommen, wenn sie sich öffentlich zu systemkritisch äußert, oder sie riskiert, in die Fänge der Justiz zu geraten. Seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi 2014 werden nämlich immer mehr progressive Menschen und Organisationen politisch verfolgt.
Was die Freundin in ihrer Arbeit und ihrem Alltag in Indien erlebt und wovon sie berichtet: Seit der Wiederwahl Modis 2019 intensiviert sich der Demokratieabbau. Journalist*innen werden an ihrer Arbeit gehindert, tätlich angegriffen, und 2020 wurden vier Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet.
Indische Bürgerrechtler*innen und Klimaaktivist*innen werden inhaftiert. Wer sich pazifistisch gegen die militaristische Politik in Kaschmir äußert, oder wer Staudamm– oder Bergbauprojekte kritisiert, die die Rechte der Indigenen zerstören, wird verfolgt.
Immer häufiger und völlig straffrei finden Pogrome gegen Menschen in den Slums, oder anderer Glaubensgemeinschaften statt. Mit einem Bürgerschaftsgesetz, 2019 verabschiedet, werden vor allem Menschen ohne Geburtsurkunde und in grenznahen Regionen von ihren politischen Rechten ausgeschlossen – und damit auch vom Zugang zu Arbeit. Das triff vor allem Muslime aus einkommensarmen Haushalten.
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Proteste gegen Bürgerschaftsgesetz, 2019
Ein weiterer Schritt im sukzessiven Abbau von Zivilrechten ist die Finanzierungs-Daumenschraube. Viele NGOs beziehen auch aus dem Ausland Fördermittel – das wurde 2020 mit einer Gesetzesänderung massiv erschwert. Dem folgten Verbote internationaler NGOs: Amnesty International musste 2020 Indien verlassen. OXFAMs Arbeit in Indien ist seit Anfang 2022 von diesem Gesetz erfasst. Selbst das apolitische, von Mutter Theresa gegründete Fürsorgehilfswerk darf seit Anfang dieses Jahres keine ausländischen Finanzmittel annehmen.
Modis Bharatiya Janata Partei (BJP) ist bekanntlich einem fanatischen Hinduismus verschrieben, seine politische Basis, die RSS, ein Freiwilligenkorps, laut einiger Beobachter nach dem Vorbild der Hitlerjugend organsiert. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy beschreibt, wie das Bürgerrechtsgesetz den Nürnberger Rassegesetzen entspricht. Dieser Demokratieabbau beschleunigt sich; deswegen wollte die indische Freundin sich die Genese des deutschen Faschismus anschauen.
Aber es geht tiefer: Modis Politik der gezielten Ausgrenzung und Unterdrückung dockt an einer Ideologie an, die von einem tagtäglichen Rassismus durchdrungen ist. Das Kastensystem in Indien presst Menschen in eine angeblich angeborene Hierarchie, mit einem vermeintlichen „oben“ und „unten“, ein System, das durch die Verfassung von 1948 übertüncht, aber nie ausgehebelt wurde. Dazu hat Arundhati Roy eloquent geschrieben – sie analysiert, dass der weltweit fast wie ein Heiliger verehrte Mahatma Gandhi das Kastensystem verfestigt hat: es ging ihm nicht darum, diese, die Menschenwürde verachtende, Sozialhierarchie abzuschaffen, sondern lediglich sie klarer zu organisieren. Er befand sie als konform mit seinem patriarchalischen hinduistischen Glauben.
NGOs haben kürzlich in einer Feldstudie 20 besonders benachteiligte Gruppen ausgemacht: unter ihnen die unterdrückte Kaste der Dalit, und auch nomadische und indigene Gemeinschaften, religiöse Minderheiten, LGBTQI –Gruppen, Frauen in vulnerablen Berufen wie Sexarbeit, Menschen, die mit einer Behinderung leben, und Sklavenarbeiter*innen. Und allgemein Frauen, die in Armut leben und der Dalit-Kaste angehören.
Die Ausgrenzungen und Benachteiligungen – in Bezug auf Arbeit, Ernährung, Bildung, Gesundheit, Wohnverhältnisse, Zugang zu Wasser und Strom – dauern an, sind zementiert, vertiefen sich. Und dass trotz der Versprechen der Verfassung und der Bildungs-, Gleichstellungs– und Sozialpolitik. Zum Beispiel ist Sprachenvielfalt in den indischen Bundesstaaten erlaubt – ein positiver Gegenentwurf zur Politik in so vielen Nachbarländern.
Auch gibt es seit den 50er Jahren Quoten an Arbeitsplätzen und Universitäten für benachteiligte Kasten, Indigene und Menschen aus religiösen Minderheiten – die sogenannten „reservations“, ein Modell, an das sich übrigens die affirmative action in den USA der 60er Jahre anlehnte. Es gibt vielerlei Sozialtransferprogramme, wie z. B. Schulstipendien für Mädchen und Kinder der benachteiligte Kasten, oder ländliche Arbeitsbeschaffungsprogramme, mit einer Mindestlohngarantie und dem Versprechen eines Jahresmindesteinkommens.
Diese Maßnahmen greifen aber nicht. Insgesamt sind die sozialpolitischen Programme zwar anspruchsvoll betitelt als ‚missions‘, und groß angelegt, aber schon immer völlig unterfinanziert, und werden seit der Modi-Regierung immer mehr ausgehöhlt.
Die dominante Hindu-Oberschicht unterläuft auf allen Ebenen die Programme. Zum Beispiel sollen Frauen aus den benachteiligten Kasten einen Sitz in den ländlichen Kommunalparlamenten haben. Aber aufgrund ihrer politischen und ökonomischen Abhängigkeit von dörflichen Großgrundbesitzern, ist es äußert schwierig, die Interessen ihrer Gruppe durchzusetzen.
Bei Gerichtsprozessen wird fast immer der dominanten Kaste recht gegeben, sei es nach der gewalttätigen Landnahme gegen einen Kleinbauern, sei es nach der Vergewaltigung von Dalitmädchen. Die Gerichtsbarkeit ist nominell unabhängig, in Wirklichkeit aber chronisch überlastet und parteiisch.
Die Freundin weiß um die grausame Kasten– und Frauenunterdrückung nicht nur aus ihrer NGO-Arbeit, sondern auch ganz persönlich. Als sie dem Vater ihren Verlobten vorstellte, sprach er zunächst nicht mit ihr, weil der junge Mann – ihr Studienfreund – aus der „falschen“ Kaste war.
Das Bild von Indien als der “größten Demokratie der Welt” stimmt so nicht, weder im familiären Bereich, noch auf der kommunalen Ebene, noch in der Politik. Seit Jahrzehnten kämpfen progressive NGOs deswegen gegen den fanatisierten politischen Hinduismus, und in den letzten Jahren gegen die politische Verfolgung. Dazu gibt es viele Ideen und Aktionen.
Die Freundin erzählt zum Beispiel von dem Aufstand der Bauern, die sich fast ein ganzes Jahr gegen ein Gesetz gewehrt haben, das sie dem Preisdruck indischer Großkonzerne ausgeliefert hätte. Die Bilder aus den Medien kennen wir alle – die Bauern der Sikh-Gemeinschaft aus dem Punjab – leicht erkennbar an ihren bunten Turbanen – auf ihren Traktoren auf Delhis Einfallstraßen. Die Wohnung der Freundin ist ganz in der Nähe des Protests und sie beschreibt begeistert die vegetarischen Garküchen, die die Protestierenden längs der Straßen einrichteten, wo es für alle Passant*innen gratis zu essen gab, egal, ob Aktivist*in oder Beobachter*in und egal, wie sie zum Protest standen. Und nach vielen Monaten des Widerstands gab das indische Parlament tatsächlich nach und widerrief das Gesetz.
Ein anderes Beispiel ist der Protest, der von einem Stadtteil Delhis, Shaheen Bagh, ausging. Hunderte Muslimas protestierten im Winter 2019/2020 mit friedlichen Sit-ins und Straßensperren gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz. Andere Gemeinschaften und Student*innen griffen die Proteste auf. Die Frauen vom Shaheen Bagh inspirierten Sit-ins quer durch Indien, von Bihar und Uttar Pradesh im Norden bis Maharashtra und Karnataka in Zentralindien.
Auf solche Erfolge von Widerstand, neue Koalitionen, und auf Umdenken, setzt die Freundin. Sie verweist auf die optimistische Kampagne „re:imagine India“, die in vielerlei Foren auf wirkliche Demokratie und Meinungsfreiheit, Menschenwürde und Gleichberechtigung in Indien hinarbeitet. Und fährt am nächsten Tag nach unseren langen Gesprächen weiter zu ihrer nächsten Konferenz.
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