“Die Woche der Meinungsfreiheit” 3. — 10. Mai 20121
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels führt dieses Jahr erstmals eine „Woche der Meinungsfreiheit“ durch.
Die Margit-Horváth-Stiftung begrüßt dies und wird sich gerne daran beteiligen.
Vom 3. – 10. Mai 2021 stellen wir täglich hier auf unserer Homepage Journalist*innen und Autor*innen vor, die in ihrem Heimatland von der Einschränkung und Unterdrückung der Meinungsfreiheit betroffen sind oder waren.
Wir beginnen heute am 3. Mai mit dem türkischen Journalisten Can Dündar; er ist einer von zahllosen Journalisten, die in der Türkei inhaftiert wurden. Seit 2016 lebt er in Deutschland.
Wir freuen uns sehr, dass Can Dündar Ende Oktober in Mörfelden-Walldorf Gast der Margit-Horváth– Stiftung sein wird.
Wir haben ihn gebeten, auf dem Podium gemeinsam mit jungen Menschen, Oberstufenschüler*innen und Student*innen über seine Grundwerte und Entscheidungen in der eigenen Biographie, die Grenzen der Meinungsfreiheit in der Türkei, die Situation der türkischen Bevölkerung in Deutschland sowie die EU– bzw. deutsche Außenpolitik bzgl. der Türkei zu diskutieren — natürlich incl. der Flüchtlingspolitik.
Can Dündar studierte in Ankara und London Journalismus und arbeitete als Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer in der Türkei. Er wurde wegen eines Zeitungsartikels angeklagt, der Spionage verdächtigt und sah sich auf offener Straße einem Attentat ausgesetzt.
Bevor Can Dündar 2015 als Angeklagter das Istanbuler Gerichtsgebäude betrat, um vernommen zu werden, sagte er zu anwesenden Freunden und Journalisten:
„Wir sind keine Spione, keine Verräter, keine Helden. Wir sind Journalisten. Wir sind hier, um für den Journalismus und das Recht der Öffentlichkeit auf Information einzutreten.
Dieses Mal haben sie es nicht mit einer Zeitung und mit Journalisten zu tun, die sich einschüchtern lassen. Hier sind Journalisten, die der Sache entschlossen nachgehen, aufrecht stehen bleiben und ihr Wort verteidigen werden.“
Was war geschehen?
Can Dündar war damals Chefredakteur und sein Kollege Erdem Gül Leiter des Hauptstadtbüros der traditionsreichen, regierungskritischen und überregionalen Tageszeitung Cumhuriyet.
Am 29. Mai 2015 hatten sie gemeinsam unter der Überschrift „Hier sind die Waffen, die Erdogan leugnet“ auf der Titelseite dieser Zeitung über Waffen– und Munitionstransporte berichtet, die der türkische Geheimdienst MIT im Jahr 2014 per LKW an islamistische Rebellen in Syrien lieferte. Zudem zeigten verschiedene Fotos die Transporte im Bild. Der Geheimdienst MIT ist dem türkischen Präsidenten direkt unterstellt und agiert weitestgehend ohne Kontrolle durch demokratische Organe.
Der Inhalt dieses Artikels wurde beim Prozess nicht in Frage gestellt.
Ihr „Verbrechen“ bestand darin, dass sie diesen Transport öffentlich gemacht und auch noch die Rolle, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dabei einnahm, ausdrücklich benannt hatten.
Dündar und Gül wurden wegen Geheimnisverrats und Spionage angeklagt und am 26. November 2015 zur Vernehmung in das Gerichtsgebäude vorgeladen. Anschließend lautete der Beschluss des Staatsanwaltes: „Ausstellung eines Haftbefehls.“
Can Dündar und Erdem Gül wurden zur Untersuchungshaft in das für politische Gegner berühmte Istanbuler Gefängnis Silivri überstellt.
„Wer hatte zu entscheiden, was man wissen durfte und was nicht?“ schreibt Dündar in seinem Buch „Lebenslang für die Wahrheit“ und fährt fort: „Selbstverständlich die jeweilige Regierung. Was aber, wenn die Regierung eine Straftat beging? Wenn diese Straftat mit dem Stempel „geheim“ vertuscht wurde? Wer hatte das zu kontrollieren?
In den USA hatte gelegentlich die Presse diese Mission übernommen … In unserem Beispiel hatte der Geheimdienst MIT sich eine Aufgabe angemaßt, die ihm laut Gesetz nicht zustand, und sich mit der Lieferung von Waffen in den Bürgerkrieg im Nachbarland strafbar gemacht.
Es mag im Interesse der Regierung gelegen haben, diese Straftat zu verschleiern, doch es war die Pflicht des Journalisten, das Verbrechen zu enthüllen. Das war der Punkt, an dem sich der Journalist vom Staatsbeamten unterschied.“
Die Tage in der Gefängniszelle beschreibt Dündar anschaulich, kreativ, wütend, traurig, voller Zivilcourage, aber auch nicht ohne Komik und Humor:
„Als mein Blick in der Zeitung auf das Horoskop fiel, musste ich lachen: „Sie werden sich in geselligen Kreisen gut mit dem geliebten Menschen verstehen“, hieß es. „Andere Organisationen könnten umtriebig sein.“ Unterschiedliche Freundeskreise könnten meinen Blickwinkel aufs Leben erweitern. Um „unterschiedliche Freundeskreise“ zu sehen, stellte ich mich auf Zehenspitzen vor die Eisentür, die einzige „andere Organisation“ waren meine Nachbarn, die zu Anwaltsbesuchen geführt wurden.
Mit Erdem (Gül), der in der Nachbarzelle saß, durfte ich nicht in „geselligen Kreisen“ zusammenkommen, ja, wir durften uns nicht einmal begegnen. Wurde der eine zum Besuch hinausgeführt, hielt man den anderen zurück, damit wir uns bloß nicht sähen.
Der Wärter, der durch die handgroße Luke Brot hereinreichte, scheute sich auf mein „Guten Morgen“ zu antworten. Beim Hofgang, beim Essen, am Tisch bist du allein…
Wie gefährlich, wie furchteinflößend muss ein Bericht, ein Gedanke, ein Buch, ein Mensch sein, dass er von der Welt isoliert wird wie ein Aussätziger?“
Can Dündar hatte vor seiner Zelle einen kleinen „Hof“, er nannte ihn den „Betonkasten.” Er fühlte sich wie ein zorniger Löwe, der nun seine Runden darin drehte: „Eins-zwei-drei-vier-kehrt — Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-kehrt — Eins-zwei-drei-vier-kehrt — Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-kehrt. Meine Schritte, immer schneller, immer gieriger, warfen mich von einer Mauer zur anderen. Je enger Grenzen gezogen werden, umso mächtiger wird der Wunsch, sie zu überwinden.”
Ein andermal schreibt er über seine Zeit in der Zelle:
„In der Nacht, als ich Nedim (Şeners) Silivri-Memoiren las, kam mir die Sisyphos-Legende aus der Mythologie in den Sinn. Sisyphos legte sich mit den Göttern an. Seine Sünde war groß, groß war auch seine Strafe:
Einen großen Felsbrocken sollte er vom Fuß eines schroffen Berghangs auf den Gipfel bringen. Noch vor Tagesanbruch sollte er oben sein. Die ganze Naht mühte Sisyphos sich mit dem Felsbrocken ab. Als das Morgenlicht dämmerte, war er oben, schweißgebadet. Hier aber erwartete ihn die Hand der Götter. Sie stießen den Felsbrocken mit einem Fingerschnippen wieder hinunter. Die abgebüßt geglaubte Strafe begann von vorn. Fortan sollte Sisyphos jede Nacht den Felsbrocken auf den Gipfel des Berges schleppen, bei Tagesanbruch aber an den Ausgangspunkt zurückkehren.
Nun ist es an uns, den Stein zu schleppen. Unsere Schuld besteht darin, uns der Wahrheit an die Fersen zu heften und Diebstahl, Korruption, Lügen aufzudecken. Daher rührt der Zorn der Herren auf dem Thron. …
Nedim hatte sich in Silivri mit einer Botschaft von Yaşar Kemal ans Leben geklammert. Die schnitt ich mir aus und hängte sie mir vor die Nase. Der Meister schrieb:
„Unnötig, sich angesichts der vorübergehenden Situation in Hoffnungslosigkeit zu stürzen. Mensch ist, wer aus Hoffnungslosigkeit Hoffnung erschafft. Entweder Demokratie oder nichts … Die Türkei hat das „Nichts“ nicht verdient. Gegrüßt seien alle, die der Angst die Stirn bieten. Gegrüßt seien alle, die beweisen, dass die Hoffnung nicht stirbt, so lange nicht der letzte Mensch gestorben ist …“
Nach verschiedenen Eingaben ihrer Rechtsanwälte kamen Can Dündar und Erdem Gül nach drei Monaten Untersuchungshaft, am 26. Februar 2016, vorläufig erst einmal wieder frei.
Einige Wochen später begann das Gerichtsverfahren und am 6. Mai 2016 sprach dass das Gericht sein Urteil. Es lautete: wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen fünf Jahre Haft für Erdem Gül und fünf Jahre und zehn Monate für Can Dündar.
In den internationalen Medien wurde dieser Prozess gegen die beiden regierungskritischen Journalisten als ein „Schlag gegen die türkische Pressefreiheit“ gewertet.
Am selben Tag wurde auf Can Dündar auf offener Straße geschossen. Er blieb unverletzt, da seine Frau den Attentäter in letzter Sekunde zur Seite riss. Der Attentäter wurde festgenommen, nach kurzer Haft aber wieder freigelassen. Erst zwei Jahre später stellte man ihn vor Gericht und verurteilte ihn wegen illegalen Waffenbesitzes zu zehn Monaten Haft. Vom Vorwurf der Bedrohung mit einer Waffe wurde er freigesprochen.
Can Dündar muss seine Haftstrafe nicht sofort antreten. Während des Militärputsches in der Türkei, in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016, ist er in Barcelona. Ein Freund ruft ihn an: „Schalte sofort den Fernseher ein! Da geht Seltsames vor.“ 10.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes, ebenso viele Lehrer, 112 Richter und Staatsanwälte werden festgenommen …
„Was sollen wir tun?“ fragte Can Dündar nun sich und seine Familie: „Was machen wir? – Jetzt in die Türkei zurückzukommen, wäre schwierig. Die würden dich sofort verhaften. – Ist Exil besser als Gefängnis? – Wenn du wieder ins Gefängnis kommst, kann es für eine lange Zeit sein. Außerdem ist es fraglich, ob du drinnen sicher bist …“
Can Dündar stornierte schweren Herzens seinen Rückflug in die Türkei und flog im August 2016 nach Deutschland.
„Mir war, als würde ich aus einem Stück Erde gerissen … Innerhalb weniger Wochen war mir zunächst mein Land, dann meine Familie, auch mein Zuhause und schließlich noch mein Job entglitten.
Wie ein vom Baum gerissenes Blatt schwebte ich im Ungewissen. Ungewiss, wohin der Sturm mich treiben würde …“
Can Dündar lebt und arbeitet seither in Berlin. Er gründete und leitet das deutsch-türkische Nachrichtenportal und Webradio ÖZGÜRÜZ (dt. „Wir sind frei“), das seit Januar 2017 online ist. In der Türkei ist diese Website gesperrt. Betrieben wird die Seite vom gemeinnützigen Recherchezentrum “Correctiv”, das sich investigativem Journalismus widmet und z.B. auch im Auftrag von Facebook Falschmeldungen und Fake News prüft.
Can Dündar schreibt seit August 2016 regelmäßig in der Wochenzeitung „Die Zeit,“ beteiligt sich an zahlreihen öffentlichen Debatten und wurde mehrfach mit namhaften Preisen ausgezeichnet. Das ZDF zeigte im Januar 2021 unter dem Titel „Kampf auf der Bosporus-Brücke” seinen 45 min. Film über den Militärputsch in der Türkei am 15./16. Juli 2016.
Das höchste türkische Revisionsgericht kassierte im März 2018 das Urteil gegen Can Dündar als zu milde; er müsse auch wegen Spionage angeklagt werden. Gleichzeitig wollte die Türkei, dass Can Dündar mit Interpol International gesucht und verhaftet wird. Die internationale Schriftstellervereinigung ist darüber empört. Das deutsche PEN-Zentrum ist fassungslos …
Am 22. Dezember 2020 wurde Can Dündar in Abwesenheit zu 18 Jahren und 9 Monaten Haft wegen Spionage und zu weiteren 8 Jahren und 9 Monaten wegen Terrorunterstützung verurteilt. Von dem Vorwurf, geheime Informationen öffentlich gemacht zu haben, wurde er freigesprochen. Das Gericht ordnete Dündars Festnahme an.
Can Dündar bleibt engagiert, recherchiert türkische Innen– und Außenpolitik und informiert so die deutsche wie die türkische Öffentlichkeit durch TV, social media, Facebook, Twitter und Zeitungen über die immer repressiveren Verhältnisse in der Türkei. Auch in Deutschland ist er durch türkische Agenten bedroht und steht unter Polizeischutz.
Dieses Zitat von Theodor W. Adorno spiegelt für Can Dündar die eigene Lage im Exil wider: »Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.«
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Can Dündar schreibt zum heutigen “Internationalen Tag der Meinungsfreiheit” über die derzeitige Lage auf der Homepage von „ÖZGÜRÜZ”