Der lange Arm Chinas in Europa
Chinas Versuche die Meinungsfreiheit durch Einschüchterung in Europa zu beschränken, nehmen zu. Die Volksrepublik hält sich für mächtig genug, um ein negatives Bild Chinas aus dem öffentlichen Diskurs verdrängen zu können. Doch Widerstand formiert sich. Dennoch ist Chinas Aggression ein Angriff auf die europäische Demokratie, die man nicht unterschätzen sollte.
Es ist ein Abend im März 2020. Ein junger Mann, nennen wir ihn Oliver, erhält eine E-Mail mit dem Betreff: „Sehr dringend: Beschwerde aus China wegen Ihrem Twitter“. Absender ist eine Professorin, die seit drei Jahren seine Doktorarbeit zum Thema Umweltverschmutzung an der Universität Sankt Gallen betreut. Oliver ist fassungslos, denn seine Professorin schreibt ihm, sie habe „aufgeregte Mails aus China“ erhalten, aus denen hervorgehe, er verbreite „Neonazi-ähnliche Inhalte“ über seinen Twitter-Account. Die Professorin fürchtet, ihr könnten künftig keine Visa mehr für China ausgestellt werden. Sie habe „keine Lust wegen einem meiner Doktoranden solche Mails zu bekommen.“
Zu diesem Zeitpunkt twittert Oliver erst wenige Tage. In seinen wenigen Tweets kritisiert er die chinesische Regierung. So zitiert die Neue Zürcher Zeitung einen seiner Tweets:
„Die Kommunistische Partei Chinas machte den Kampf gegen Covid-19 zum Plan B. Dieser würde nur zum Tragen kommen, wenn Plan A – Vertuschung – scheitert. So handeln paranoide Feiglinge. Sie haben weder meinen Respekt noch meine Dankbarkeit verdient.“
Inwiefern der Tweet „Neonazi-ähnlich“ sein soll, erschließt sich nicht. Fraglos ist, dass der Inhalt von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Oliver glaubt zunächst an ein Missverständnis, deaktiviert aber noch am gleichen Abend sein Twitter-Konto. Doch 48 Stunden später teilt ihm die Professorin mit, es bestehe kein Betreuungsverhältnis mehr. Schon am nächsten Tag löscht die Universität seinen E-Mail-Account. Die Universität stellt den Hergang zwar anders dar, aber der Schriftverkehr, der der Neuen Zürcher Zeitung vorliegt, stützt die Version des Doktoranden.
Chinas Einschüchterung – kein Einzelfall
Olivers Erlebnisse sind kein Einzelfall. Insbesondere seit Ausbruch der Coronapandemie sind es chinesische Diplomaten in Peking und in Europa, die versuchen mit einer aggressiven Rhetorik Kritiker*innen einzuschüchtern. Ihre Hauptvertreter wie beispielsweise der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Zhao Lijian, oder die Botschafter Gui Congyou (bis 2021 Botschafter in Schweden) und Lu Shaye (Botschafter in Frankreich), werden in Anlehnung an einen nationalistischen Actionfilm „Wolfskrieger“ genannt. Diese Wolfskrieger reagieren aggressiv auf jedwede Kritik, die sie als Beleidigung Chinas auffassen. Einschüchterungsversuche sollen dazu dienen, Kritiker*innen mundtot zu machen und nur noch ein positives Chinabild in der öffentlichen Diskussion in Europa zuzulassen.
Bezeichnend ist die Dynamik der „Wolfskrieger“-Aggression im Kontext der Pandemie: Zunächst beschädigte die Tatsache, dass sich die Pandemie von der chinesischen Metropole Wuhan weltweit ausgebreitet hatte das Image der Volksrepublik und seiner Machthaber. Doch als es den autoritären Herrschern mit drakonischen Lockdowns (zumindest zeitweise) gelang die Pandemie zu bekämpfen während in Europa auf jede Entspannung eine weitere Infektionswelle folgte, deutete Peking dies als Zeichen der Überlegenheit des chinesischen Autoritarismus. So sollte die Pandemie, die von China aus um die Welt gegangen war, als Zeichen chinesischer Macht umgedeutet werden. Diesem mächtigen China, so die Wolfskrieger, gebührt Respekt. Kritik wird nicht geduldet.
Dass Macht aus Sicht Pekings Kritik an China verbietet, erlebte ich bereits vor mehr als einem halben Jahrzehnt. Damals echauffierte sich ein Ausbilder chinesischer Diplomaten mir gegenüber, ein kanadischer Journalist habe den kanadischen Außenminister bei einer Pressekonferenz im Anschluss an bilaterale Gespräche gefragt, ob Menschenrechte eine Rolle in den Unterredungen gespielt hätten. Mein chinesischer Gesprächspartner störte sich nicht an der Frage des Journalisten, sondern daran, dass diese von einem kanadischen Journalisten gestellt worden war. Kanada habe viel weniger Macht als China, sei unbedeutend. Einem amerikanischen oder deutschen Journalisten gestehe er eine solche Frage zu, aber nicht einem, aus einem Land ohne Macht.
Chinas Einflussnahme – ein europaweites Phänomen
Offenkundig fühlt sich China mittlerweile in ganz Europa so mächtig, dass es das öffentliche Chinabild kontrollieren will. In Frankreich musste das Museum im früheren Schloss der Herzöge der Bretagne in Nantes eine Mongolenausstellung verschieben, weil China zentrale, bereits zugesicherte Leihgaben nur nach Frankreich schicken wollte, wenn es Einfluss auf die Darstellung der historischen Rolle Dschingis Khans nehmen könne. Den Titel der Ausstellung waren die Franzosen noch bereit zu ändern. Doch als Chinas Forderungen immer weiter gingen, verschob das Museum die Eröffnung der Ausstellung auf Oktober 2024.
In Schweden empörte sich der damalige chinesische Botschafter regelmäßig und unter öffentlicher Nennung der Namen von Journalist*innen über kritische Medienberichte. Ein Journalist der Zeitung „Expressen“ wurde bedroht. Außerdem verlangte er eine Entschuldigung, weil eine Satiresendung des schwedischen Fernsehens einen Scherz über chinesische Touristen gemacht hatte. Kurz darauf drohte der gleiche Botschafter mit wirtschaftlichen Konsequenzen, sollte eine Ministerin an der Verleihung eines Menschenrechtspreises durch den unabhängigen Schriftstellerverband PEN teilnehmen. Die Ministerin beugte sich dem Druck nicht. Dies war eine Provokation für den Botschafter. Schweden verhalte sich wie ein Leichtgewichtsboxer, der eine Fehde mit einem Schwergewichtsboxer provoziere, meinte er in einem Interview.
Auch deutsche Institutionen wurden bereits Opfer von Chinas Aggression. Im März 2021 stellte China Deutschlands größtes China-Forschungsinstitut, das Mercator Institut für China Studien, unter Sanktionen. Wissenschaftler*innen, die dort arbeiten, können nicht mehr nach China einreisen und Chines*innen ist es verboten mit ihnen Geschäfte zu machen. Darüber hinaus gibt es vage Formulierungen im chinesischen Statement zu den Sanktionen, das offenlässt, ob auch die Familienangehörigen der Sanktionierten betroffen sind. Das gleiche Schicksal wie die Mitarbeiter*innen des Mercator Instituts für China Studien ereilte auch die dänische Allianz für die Demokratien, die vom früheren dänischen Premierminister Anders Fogh Rasmussen gegründet wurde.
Und selbst europäische Parlamentarier wurden von China sanktioniert. Dazu zählen die deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments Michael Gahler von der CDU und Reinhard Bütikofer von den Grünen, sowie die französische Abgeordnete Raphael Glucksmann, der Bulgare Ilhan Kyuchyuk und die Slowakin Miriam Lexmann. Auch der gesamte Menschenrechtsausschuss des Europaparlaments wurde von China sanktioniert.
Chinas Informationskampagnen
Die Einmischung in den europäischen Diskurs erfolgt aber nicht nur in Form von Sanktionen und Einschüchterungen, sondern auch in subtilerer Form. Es geht China darum, ein positives Bild von der Volksrepublik in Europa zu verbreiten und kritische Aspekte zunehmend auszublenden. Besonders im Fokus der Aufmerksamkeit stehen von China finanzierte Konfuzius Institute. Der häufig gegen die Institute erhobene Vorwurf ist, dass sie an europäischen Universitäten angesiedelt vom chinesischen Staat kontrolliert werden. Der Verdacht besteht, dass China auch die Lehrinhalte kontrolliert.
Diese Kritik ist zwar nicht unbegründet, übersieht aber, dass das Ausmaß der Abhängigkeit von China von Institut zu Institut stark variiert. Das Institut an der Universität Duisburg-Essen hat beispielsweise eine explizite Vereinbarung geschlossen, das Veranstaltungen zu kritischen Themen ermöglicht. Darüber hinaus legt die Universität wert darauf, dass das Lehrangebot für die Studierenden unter einer Schließung des Instituts kaum leiden würde. So will sich die Universität ihre Unabhängigkeit bewahren.
Als im vergangenen Herbst ausgerechnet das Konfuzius Institut in Duisburg-Essen die Lesung einer Xi Jinping-Biografie absagen musste, wurde aber auch deutlich, dass selbst die umsichtigsten Verträge mit China das Risiko chinesischer Zensur in Konfuzius Instituten nicht eliminieren können. Entsprechend reagierte der Trägerverein des Instituts und stellte klar, dass eine Wiederholung des Falles zur Institutsschließung führen würde. Die Lesung wurde außerhalb des Konfuzius Instituts an der Universität durchgeführt.
Neben Konfuzius Instituten versucht China auch über Zeitungsbeilagen ein positives China-Bild in Europa zu verbreiten. Vor allem in Mittelosteuropa wurde China in den letzten Jahren aktiv. In einigen Fällen wurden Medienhäuser vollständig oder teilweise übernommen. Nachdem das chinesische Unternehmen CEFC Empresa Media in Tschechien übernommen hatte, änderte sich die Berichterstattung der angeschlossenen Medien TV Barradov und Týden nachweislich zu Chinas Gunsten. In anderen Fällen wurden umfassende Abkommen zum Teilen von Inhalten geschlossen. Das bedeutet, dass europäische Zeitungen chinesische Artikel unkommentiert abdrucken, als seien sie unabhängige Agenturmeldungen. Besonders weitgehend ist das Beispiel der tschechischen Zeitung Právo, die sich nicht entblödete Inhalte zu veröffentlichen, die direkt von der chinesischen Botschaft in Prag verfasst worden waren.
Chinas Aggression verschlechtert Pekings Image – Europa wehrt sich
Chinas Vorgehen erfährt mehr und mehr Widerstand in Europa. Bis heute weigert sich das Europaparlament ein fertig ausgehandeltes Investitionsabkommen mit China zu ratifizieren, solange Mitglieder des eigenen Hauses unter Sanktionen gestellt sind.
Noch deutlicher ist Europas Reaktion auf einen anderen Fall. So blockierte Peking die Einfuhr von litauischen Gütern in die Volksrepublik, nachdem Litauen die Eröffnung eines Verbindungsbüros unter dem Namen „Taiwan“ und nicht wie sonst üblich „Taipeh“, benannt nach der Hauptstadt der Insel, zuließ. Überdies drohte China internationalen Firmen, darunter dem deutschen Unternehmen Continental, mit dem Entzug des Marktzugangs in China, sollten sie weiterhin Geschäfte mit Litauen machen.
Die Europäische Union reichte vor dem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation Klage ein. Darüber hinaus arbeitet die Union an einem Rechtsinstrument, das es der Europäischen Kommission in der Zukunft erlauben soll, auf Erpressungsversuche gegen einzelne Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen Konsequenzen des gesamten Binnenmarktes zu reagieren.
Gegen die Sanktionen gegen Wissenschaftler*innen setzten einige Forscher*innen und Forschungsinstitute ein Zeichen. Ein sehr gutes Beispiel ist das Statement des amerikanischen Think Tanks CSIS. Zugleich fürchten aber nach wie vor viele Forschungseinrichtungen und –netzwerke Nachteile, wenn sie sich klar gegen chinesische Einschüchterungs– und Zensurversuche wehren. So verständlich diese Angst auch sein mag, sie ist kein guter Ratgeber, denn sie ermutigt China letztlich nur den aggressiven Kurs weiter zu verfolgen.
Auch reagiert Europa zunehmend auf Chinas Informationskampagnen. Der Europäische Auswärtige Dienst hat eine Task Force eingerichtet, der eine Übersicht über Desinformation und Einschüchterungsversuche erstellt und über soziale Medien aufklärt. In Mittelosteuropa kartierte zunächst das Forschungsprojekt „Chinfluence“ die Einflussnahme Chinas auf die öffentliche Meinung. Neben dem Nachfolgeprojekt „Mapinfluence“ gibt es mittlerweile auch „Choice“ mit Sitz in Prag. Das Projekt, das von einigen Wissenschaftler*innen betrieben wird, die auch Chinfluence und Mapinfluence gründeten, will einen Schritt weitergehen und neben Informationsaustausch auch eine Plattform für Diskussionen, „best practices“ und Zusammenarbeit zwischen Forscher*innen in der Regional Mittelosteuropas ermöglichen.
Überdies geht Chinas Strategie in Europa nicht auf. Die öffentliche Wahrnehmung Chinas wird kontinuierlich negativer. Von 2016 bis 2021 stieg der Anteil jener, die eine negative Meinung von China haben im Durchschnitt in acht europäischen Staaten von 45,1% auf 63,9%. Auffällig ist, dass die öffentliche Meinung über China besonders in den Ländern leidet, in denen „Wolfskrieger“ aggressiv gegen ihre Kritiker*innen vorgehen – besonders in Schweden.
Auch in Ungarn, dem EU-Staat mit der China-freundlichsten Regierung, regt sich kreativer Widerstand gegen chinesische Einflussnahme. Nachdem die staatliche Fudan-Universität in Budapest einen Campus bauen wollte, protestierte nicht nur die Bevölkerung, sondern die Stadt benannte die anliegenden Straßen kurzerhand Dalai-Lama-Straße, „Freies Hongkong“ und „Straße der uigurischen Märtyrer“ um. Möglich wurde dies, weil der Bürgermeister von Budapest nicht der in Ungarn regierenden Partei Fidesz von Premierminister Viktor Orban angehört. Stattdessen ist er Mitglied der Partei „Dialog für Ungarn“, die ein Äquivalent zu den Grünen ist. Mitte 2021 machte die ungarische Regierung einen Rückzieher. Die Pläne einer staatlichen chinesischen Universität in Budapest sind (vorerst) vom Tisch.
Die Gefahr der Selbstzensur
Obwohl Chinas Strategie das eigene Image zu verbessern scheitert, unterhöhlen die chinesischen Aktivitäten in Europa die Meinungsfreiheit. Einige potenzielle Kritiker*innen fühlen sich sicherlich eingeschüchtert und überlegen inzwischen, ob und wie sie Kritik äußern. Selbstzensur kann eine Folge sein.
Doch auch jene, die sich nicht den Mund verbieten lassen, stehen vor einer Herausforderung. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Einschüchterungsversuche Chinas zur Verhärtung der eigenen Position gegenüber Peking beitragen. Ein nüchterner, wenn auch nicht wertneutraler Beobachter zu bleiben, ist unter Bedingungen chinesischer Aggression und Einschüchterungsversuchen eine sich immer wieder erneuernde Herausforderung.
Unabdingbar ist es, eine Öffentlichkeit für Chinas Aggression zu schaffen – nicht zuletzt, damit die Betroffenen spüren, dass sie nicht allein sind. Die Universität in Sankt Gallen hat der Aushöhlung europäischer Meinungsfreiheit Vorschub geleistet. Bleibt zu hoffen, dass das Verhalten der Universität in ganz Europa als Lehrstück dafür dient, wie man es nicht machen sollte.