Frauenrechte und Meinungsfreiheit in Afghanistan – Taliban unterdrücken Frauen und Mädchen systematisch
Ein Beitrag von Dr. Alema Alema,
Durch die drakonische Politik der Taliban werden Millionen Afghaninnen und Afghanen seit deren erneuten Machtübernahme im August 2021 ihres Rechts auf ein sicheres, freies und würdiges Leben beraubt. Alle, denen „unislamisches Verhalten“ oder eine „Zusammenarbeit mit dem Westen“ unterstellt wird, müssen derzeit mit Unterdrückung und Vergeltungsaktionen unter Lebensgefahr rechnen. Das trifft Menschenrechtsaktivist*innen, Medienschaffende, Jurist*innen, Sportler*innen, Künstler*innen, ehemalige Regierungsmitarbeitende und Sicherheitskräfte, Menschen, die für internationale Organisationen gearbeitet haben sowie alle Kritiker*innen der Taliban. Die Berichte reichen von Hausdurchsuchungen, über willkürliche Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen bis hin zu Hinrichtungen.
Die Politik der Taliban ist eine Politik gegen Frauen und Mädchen
Besonders Frauen und Mädchen werden systematisch unterdrückt und diskriminiert. Gleich zu Beginn ihrer erneuten Herrschaft schlossen die Taliban Mitte September 2021 das von der vorherigen Regierung initiierte Frauenministerium und ersetzten es durch das »Ministerium für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern«. Auch wurde die Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von frauenbezogener Gewalt geschlossen. Damit verloren die afghanischen Frauen und Mädchen jedwede politische Vertretung ihrer Anliegen im Land.
Ihnen wurde ihr Recht auf politische Teilhabe und auf freie Ausübung eines Berufes genommen. Sie dürfen nicht reisen, keinen Sport treiben und mittlerweile nicht einmal mehr Parks oder öffentliche Bäder besuchen. Viele junge Frauen werden in Ehen mit Taliban-Anhängern gezwungen und haben keine Möglichkeiten, sich vor häuslicher Gewalt zu schützen. Frauen-Demonstrationen werden brutal gestürmt und die Teilnehmerinnen, die für ihre Rechte einstehen, festgenommen. Für „westliches“ oder „unislamisches“ Verhalten drohen ihnen Strafen wie Auspeitschungen und Steinigungen.
Drastisch ist auch die Einschränkung des Rechts auf Bildung. Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Taliban wurde den meisten Mädchen der Schulbesuch nach der sechsten Klasse verboten. Nur in wenigen Provinzen wie Mazar-e-Sharif gab es hiervon zunächst noch Ausnahmen: Die Sekundarschule wurde zwar streng nach Jungen und Mädchen getrennt, blieb aber für letztere zugänglich. Im März 2022 kündigte das afghanische Bildungsministerium an, dass ab dem 23. März für Mädchen der Besuch der weiterführenden Schulen wieder erlaubt wird. Die Hoffnung tausender Mädchen wurde aber am selben Tag erstickt, als sie vor den Schulen auf Taliban-Angehörige trafen, die ihre Waffen auf die Mädchen richteten und sie nach Hause schickten. Ein betroffenes Mädchen berichtete gegenüber der taz: »Ich habe mich gefühlt wie ein Kind, das eine Sandburg gebaut hat. Plötzlich kommt jemand mit schweren Schuhen, trampelt die Burg kaputt und freut sich über die Trauer des Kindes.«
Ähnlich wie den Schülerinnen ging es Frauen, die ein Studium absolvieren wollten. Zwar durften sie nach der Machtübernahme der Taliban zunächst – wenn auch strikt getrennt von ihren männlichen Kommilitonen – ihr Studium fortsetzen. Doch am 20. Dezember 2022 verboten die Taliban auch ihnen grundsätzlich, zur Universität zu gehen. Begründet wurde dieser drastische Schritt durch den afghanischen Bildungsminister Scheich Neda Mohammed Nadim mit angeblichen Verstößen gegen die Rechtsauffassung des Islam der Taliban. So hätten etwa Studentinnen die islamischen Kleidervorschriften nicht beachtet oder seien aus den Provinzen ohne männliche Begleitung an die Universitäten gekommen. Außerdem seien Frauen und Männer weiterhin gemeinsam unterrichtet worden und einige Studienfächer stünden „der afghanischen Ehre und den islamischen Prinzipien entgegen“.
Eine Gesellschaft verliert ihre Meinungs– und Pressefreiheit
Bevor die Taliban an die Macht kamen, wurde mit internationaler Unterstützung eine moderne Verfassung verabschiedet, die im zweiten Kapitel alle Aspekte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte über bürgerliche und politische Rechte beinhaltete wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern.
Eine der größten Errungenschaft der letzten 20 Jahre in Afghanistan war, dass sich eine starke Zivilgesellschaft etablieren konnte, die hinter dieser Verfassung und den damit einhergehenden Freiheitsrechten stand – vor allem in den Großstädten.
Dank des Rechts auf Presse– und Meinungsfreiheit konnte sich auch eine vielfältige Medienlandschaft etablieren mit 547 Medien und über 11.000 Journalist*innen im Sommer 2021. Doch seit der Machtübernahme der Taliban ist die Medienlandschaft um mehr als ein Drittel geschrumpft. Laut Reporter ohne Grenzen wurden innerhalb eines Jahres fast 40 Prozent aller Medien eingestellt und über 76 Prozent der Journalist*innen haben ihren Job verloren oder gaben ihn aus Angst vor den Taliban auf. In vielen Provinzen arbeiten gar keine Journalistinnen mehr. Auf der Rangliste der Pressefreiheit für das Jahr 2022 ist Afghanistan auf den Platz 156 von insgesamt 180 zurückgefallen (im Jahr 2021 war Afghanistan noch auf Platz 122).
Die Rolle westlicher Staaten bei der Machtübernahme durch die Taliban
Die Vorbereitung der Machtübernahme durch die Taliban war durch die Verhandlungen der USA mit den Taliban im Rahmen des sogenannten Doha-Abkommens „Bringing Peace to Afghanistan“ angelegt, in dem der vollständige Abzug der internationalen Truppen bis zum 30. April 2021 und die Aufnahme von innerafghanischen Friedensverhandlungen festgelegt wurden. Die Forderung, aus Afghanistan abzuziehen, war bereits von Biden in seiner Zeit als Vizepräsident mehrfach angestoßen worden. Nun aber wurden die realen Verhandlungen unter Präsident Trump geführt und schließlich im Februar 2020 unterzeichnet.
Das Abkommen wurde fatalerweise beschlossen, ohne auf die Wahrung etablierter Rechte und Freiheiten für das afghanische Volk zu insistieren. Zu den angestrebten Friedensverhandlungen, an denen die Taliban offensichtlich kein Interesse hatten, ist es nie gekommen.
Durch das Abkommen fühlen sich viele in Afghanistan, die sich in den letzten 20 Jahren für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben, verraten. Auch den westlichen Mächten muss klar gewesen sein, dass der fluchtartige Abzug der westlichen Truppen zum Zusammenbruch auf allen Ebenen führt: militärisch, humanitär und demokratisch. Auch im UN-Sicherheitsrat wurde der entsprechenden Resolution allerdings einstimmig zugestimmt.
Es ist ein rechtsfreier Raum entstanden, in dem die Taliban ohne jegliche Kontrolle zunehmend brutal agieren. Binnen weniger Monate entwickelte sich Afghanistan zu einem der frauenfeindlichsten Länder der Welt und wurde wieder Zentrum von terroristischen Netzwerken. Zehntausende verhungern, die Krankenversorgung bricht zusammen, das Land versinkt im Chaos.
Am Anfang der Machtübernahme durch die Taliban demonstrierten Afghan*innen mutig für ihre Rechte, gingen auf die Straße und forderten ihre Rechte auf Brot, Arbeit und Freiheit ein. Diese Proteste konnten nicht wachsen, denn zahlreiche Teilnehmer*innen wurden festgenommen, gefoltert, gedemütigt und ermordet. Mohammad Yusuf Mistry, der Generaldirektor der Taliban-Gefängnisse, sagt im Januar 2023, dass „mehr als 12.000 Gefangene“ in Taliban-geführten Gefängnissen festgehalten werden, darunter 800 Frauen und einige Kinder.
Deutschlands Verantwortung nach dem Abzug der Bundeswehr
Die Bundesregierung hat im Unterschied zu vielen anderen Staaten versprochen, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Viele derjenigen, die in Afghanistan für Menschenrechte und Demokratie eingetreten sind, haben an die Verlässlichkeit der westlichen Staaten geglaubt und nach der Machtübernahme der Taliban auf Deutschland und die neue Bundesregierung gehofft.
So hieß es dann auch im Koalitionsvertrag von November 2021: „Wir werden unsere Verbündeten nicht zurücklassen. Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben. Deswegen werden wir das Ortskräfteverfahren so reformieren, dass gefährdete Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen. Wir werden humanitäre Visa für gefährdete Personen ermöglichen und dazu digitale Vergabeverfahren einführen. […] Deutschland wird sein Engagement für die Menschen in Afghanistan fortsetzen. Die Anerkennung der Regierung knüpfen wir an ihre Inklusivität und an die Bewahrung der Menschenrechte. Insbesondere werden wir uns für Frauen– und Mädchenrechte sowie für den Schutz und die Aufnahme derer einsetzen, die durch eine frühere Zusammenarbeit mit uns gefährdet sind.“ (S.142, 156)
Zudem kündigte die Bundesregierung im Dezember 2021 in einem Aktionsplan Afghanistan an, die Ausreisemöglichkeiten für ehemalige Ortskräfte und besonders Schutzbedürftige ausbauen und beschleunigen zu wollen.
Versprechen aus Koalitionsvertrag nicht umgesetzt
Aber das, was seitdem geschehen ist, ist leider ungenügend. Das am 17. Oktober 2022 gestartete Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan ist intransparent, übermäßig formalisiert und weist handwerkliche Schwächen auf. Mit den angekündigten Aufnahmezusagen für 1.000 Personen pro Monat (also nur 200 bis 300 Familien), handelt es sich zudem nur um ein Mini-Programm, das sich nur an sich in Afghanistan befindende Bedrohte richtet. Viele Verfolgte mussten aber, um ihr Leben zu retten, längst in Nachbarstaaten wie Pakistan und Iran fliehen, wo ihnen die Abschiebung zurück nach Afghanistan droht. Bis heute konnte aufgrund andauernder Anlaufschwierigkeiten keine Person über das Programm nach Deutschland einreisen.
Auch andere Wege der Aufnahme sind extrem schwierig zu erreichen. Bei dem sogenannten Ortskräfteverfahren blieben bisher zahlreiche Betroffene wegen der zu eng gesetzten Auswahl-Kriterien außen vor. Das Verfahren muss daher dringend reformiert werden, so dass alle Bedrohten, die für deutsche Organisationen gearbeitet haben, Schutz finden. Denn die Taliban unterscheiden bei ihren Rachehandlungen nicht, wie weit eine Tätigkeit für westliche Organisationen zurückliegt oder ob es sich um ein Subunternehmen gehandelt hat.
Ebenso muss der Prozess der Familienzusammenführung aus Afghanistan, der vor allem wegen den hohen bürokratischen Hürden und den jahrelangen Wartezeiten bei den deutschen Botschaften in Pakistan und im Iran fast nicht stattfindet, vereinfacht und beschleunigt werden. Der Begriff der Familien (derzeit nur Kernfamilie mit minderjährigen Kindern) sollte auf alle tatsächlich bedrohten Familienmitglieder, die unter einem Dach leben oder gewohnt haben, ausgeweitet werden. Auch aufgenommene ehemalige Ortskräfte sollten einen Anspruch auf Familiennachzug erhalten, denn auch deren Familien sind in Afghanistan von Racheaktionen durch die Taliban bedroht. Nicht zuletzt ist es notwendig, dass afghanische Frauen in Deutschland im Asylverfahren wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden. Das forderte jüngst auch die Europäische Asylagentur (EUAA): Frauen und Mädchen sind angesichts der Politik der Taliban und der Umsetzung der Scharia generell von Verfolgung bedroht und müssen einen Anspruch auf den Flüchtlingsstatus haben.