5. Thema: Sinti und Roma – die größte europäische Minderheit
Seit 2011 führt die Margit Horváth-Stiftung zahlreiche Projekte zur historischen und aktuellen gesellschaftlichen Situation der Sinti und Roma durch. Da uns die aktuelle Brisanz der Lage der Sinti und Roma in Europa bewusst ist, waren ausgesprochen froh, dass sich auch einige Schüler, die den heutigen Abend vorbereiteten, damit befassten. Die Sinti und Roma sind — mit ca. 10 — 12 Mio — die größte Minderheit in Europa. In Deutschland leben derzeit ca. 70.000 – 90.000. Die Zahlen, die ich nenne, können stets nur ungefähre Größen angeben, da innerhalb der EU die ethnischen Zugehörigkeit natürlich nicht offiziell registriert wird. Tom Koenigs setzt sich seit Jahren sehr für die Rechte dieser Minderheit ein. Dabei weist immer wieder — wie ich denke zu recht — darauf hin: Wir sollten bei diesem Thema nicht einfach mit dem Finger auf osteuropäische Länder zeigen, sondern zunächst erst einmal ernsthaft auch vor der eigenen Haustüre kehren. Für Deutschland heißt das zunächst: Wir sollten stets im Bewusstsein haben, dass ca. 500.000 Angehörige dieser Minderheit während der NS-Zeit in Konzentrationslagern ermordet wurden. In den Schulbüchern und im Unterricht ist das bis heute kaum der Erwähnung wert. Wer an den Holocaust denkt, assoziiert den Völkermord an den Juden.
In der Bevölkerung Westeuropas existiert bis heute in allen gesellschaftlichen Schichten ein breiter Antiziganismus; gepaart ist dies in der Regel mit einer eklatanten Unkenntnis darüber, was Sinti und Roma überhaupt sind. Die meisten Deutschen denken dabei noch immer an große, als bedrohlich empfundene Familienclans, die mit Wohnwagen herumziehen. Tatsache ist aber, dass 97% dieser Minderheit bereits seit dem frühen 20. (!) Jh. sesshaft sind. In der breiten Bevölkerung interessiert man sich in der Regel nicht für Geschichte, Kultur und Lebensweise der Sinti und Roma. Im Bauchgefühl aber herrschen klare, negative Klischees und Stereotype.Dies zeigen auch die Ergebnisse des Gutachtens “Antiziganismus — Zum Stand der Forschung und Gegenstrategien” von Markus End aus dem Jahr 2013 – gefördert und mitfinanziert von der Stiftung der Bundesregierung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. Daraus zeigen Ihnen nun drei Schüler auf Transparenten einige Umfrageergebnisse: 44% der Bevölkerung ist in Deutschland der Meinung, dass Sinti und Roma zu Kriminalität neigen.
Diese Zahlen belegen die gegenwärtige Situation: Wer heute in der Rhein-Main-Region, die als besonders weltoffen und tolerant gilt, eine Wohnung sucht und sich dabei als Sinti oder Roma zu erkennen gibt, bekommt keine Wohnung.
Ähnlich ist es bei der Arbeitssuche. entweder gibt man sich nicht als Roma zu erkennen oder man läuft Gefahr, höchstens im Billiglohnbereich und ohne die entsprechende Sozialversicherung etwas zu bekommen.
Florian Ulrich und Marcel Bau, Oberstufenschüler der Dreieichschule in Langen, haben sich mit der Situation der Sinti und Roma beschäftigt. Sie haben lange gezögert, sich hier aktiv an diesem Podium zu beteiligen. Nicht weil sie die Thematik nicht interessierte. – Ganz im Gegenteil. Sie zögerten, weil sie meinten, nicht genug zu wissen. – Doch wer will ihnen das zur Last legen? Dies Thema gehört nicht zum Kanon des Schulunterrichtes. Die beiden Schüler aber legen wert darauf, hier nicht als „Experten“ betrachtet zu werden.
Florian: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Auf diesen ersten Artikel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung möchten wir unsere Fragen beziehen.
Sinti und Roma stammen ursprünglich zwar aus Indien, doch seit sechs Jahrhunderten leben sie schon in verschiedenen Ländern Europas — so auch in Deutschland. In der NS-Zeit wurden sie verfolgt und ermordet; auch nach 1945 schob man sie wieder als “Zigeuner” an den Rand der Gesellschaft. Bis heute sagen die meisten Sinti und Roma nicht, dass sie dieser Minderheit angehören. Sie haben — durchaus berechtigt — Angst in extremer Weise diskriminiert zu werden.
Zum Beispiel im Fußballverein was wäre wohl in den Stadien der Bundesliga los, wenn ein Spieler sich als Roma outen würde? Und was wäre in all den kleinen Vereinen? Wenn ein Junge sagen würde, dass er Roma ist, hätte er es vermutlich schwer. Vieles von dem, was wir bei der Vorbereitung auf den heutigen Abend gelesen haben, erschreckte uns sehr. Wir wissen, dass in unserer Gesellschaft manches gegen die Diskriminierung getan wird, aber ist dies wirklich genug?
Marcel: Hierzu möchte ich noch ein konkretes Beispiel anfügen: Bei der Bundestagswahl plakatierte die NPD (2013) den aus unserer Sicht eindeutig rassistischen Slogan „Geld für Oma statt für Sinti und Roma.“ Dagegen gab es keine Protestwelle in der breiten Öffentlichkeit. Dies wurde von der Mehrheitsgesellschaft einfach so hingenommen. – Warum berührt dies so wenige Menschen, Herr Koenigs?
Tom Koenigs: Bedauerlicherweise berührt es in der Tat viele Menschen gar nicht. Das Plakat ist bundesweit geklebt worden. Gefreut hat mich aber, dass es zumindest von allen anderen Parteien ein Gegenplakat gab mit der Abwandlung: „Meine Oma mag Sinti und Roma.“ Doch der Aufschrei der Gesellschaft hätte natürlich breiter sein müssen. Da gibt es noch viel zu tun. — Ein anderes Beispiel ist Leonarda, eine junge Romni, die in Frankreich aufwuchs. Sie ist vor einigen Monaten während eines Schulausfluges festgenommen und in den Kosovo abgeschoben worden. Bei diesem Fall ist tatsächlich die gesamte Schülerschaft aufgestanden. In Paris und in ganz Frankreich gab es riesige Demonstrationen deswegen. Im Augenblick wäre dies vermutlich in Deutschland nicht vorstellbar. Aber das Beispiel zeigt uns: Man kann etwas tun!
Cornelia Rühlig gibt nun dem Publikum zwischendurch auch die Möglichkeit, einzelne Fragen an Tom Koenigs zu stellen. Drei Fragen (leider nicht über Mikro erfasst) werden zur Reichweite der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gestellt. Zudem wird danach gefragt, warum kaum Frauen im Rahmen der UNO vergleichbare Aufgaben übertragen bekommen wie z.B. Tom Koenigs als UN-Sonderbeauftragter in Afghanistan. Koenigs verweist darauf, dass letzteres der UNO bewusst ist, dass aber derzeit (noch) nur wenige Frauen bereit sind diese Arbeit zu tun.
Anschließend geht es zurück zu den Fragen der Oberstufenschüler auf dem Podium. Das nächsten Fragen beziehen sich auf die NSA. Samuel, was bedeuten die Enthüllungen von Ed Snowdon über die Arbeit der US-amerikanischen Geheimdienste für dich? Was bedeutet für dich das Internet?
Samuel: Ich gehöre zu der Generation, die sehr viel über das Internet kommuniziert. Für uns ist das Internet nicht nur Facebook, Google oder Pornographie – was vielleicht viele Erwachsene denken. Das Internet ist für die Jugend sehr viel mehr. Es hat einen hohen kommunikativen und damit auch kulturellen Wert, der oft unterschätzt wird. Der Charakter des Internet wird mir zu oft zu negativ dargestellt.
Wenn ich mich jetzt frage, was es für mich bedeutet, dass meine Emails irgendwo gespeichert werden, dann muss ich — wenn ich ehrlich bin — sagen, dass ich nicht wirklich nachfühlen kann, was es bedeutet, abgehört zu werden. Für diejenigen, die in der DDR aufgewachsen sind, ist das vermutlich etwas anderes. Sie haben es selbst oder zumindest in ihrem Bekanntenkreis miterlebt, dass jemand bespitzelt, vorgeladen und vielleicht sogar verurteilt wurde, weil er irgendetwas gesagt hatte, was dem Staat nicht gefiel. Aber ich habe das nicht erlebt, d.h. ich kann nur versuchen, mir das rational klar zu machen. Dennoch: Das Nachfühlen ist schwierig. Aber natürlich möchte ich nicht meine Privatheit verlieren, wenn ich ins Internet gehe. Internet und Computer ist einfach ein Teil, der zur Jugend gehört.
Man sieht es ja auch hier vorne: Wir haben alle Smartphones auf dem Tisch liegen oder auch ein Tablet. Das ist ein Charakteristikum unserer Jugend. Und ich finde das im Prinzip auch gut.
Cornelia Rühlig: Hast du denn dein Verhalten im Internet verändert seit den Enthüllungen über die NSA?
Samuel: Quatsch. Das verändert gar nichts. Fast alle machen so weiter wie bisher. Es gibt im Internet zwar Anleitungen, wie man selbst verschlüsseln kann, aber wer macht das schon… Genauso kann man auch einen „Like“-Button für Snowdon drücken oder man kann auf der Straße demonstrieren…Aber bringt das was?
Wenn die große Mehrheit der Jugend wirklich den „Like“-Button für Snowdon gedrückt hätte, dann hätte das die Politiker durchaus beeindruckt! Wenn die Mehrheit der Bevölkerung übers Internet sagt: Snowdon muss Asyl finden in Deutschland, dann kommt die Regierung da nicht so ohne weiteres dran vorbei. Das sollte man nicht unterschätzen. Ich denke, da könnten sich noch viele Menschen engagieren. Meine Meinung dazu ist: Es muss doch ein Land geben, das honoriert, was dieser Mann gewagt hat. Das geht doch uns alle an! Da wäre eine Bürgerbewegung wichtig und gut.
Im Prinzip ist das Internet für mich – ebenso wie die Presse – ein Medium der Freiheit. Doch um diese Freiheit zu gewährleisten, muss man auch dafür kämpfen. Das war bei der Presse im 19. Jh. nicht anders; jahrzehntelang wurde für die Pressefreiheit gekämpft. Im Augenblick tun die Einschränkungen und Überwachungen des Internets noch nicht weh, doch man muss sich darum kümmern. Auf nationaler Ebene kann man nichts machen; dies ist ein internationaler Zusammenhang. Daher muss es m. E. nach eine internationale Internetkonvention geben, die sowohl die Freiheit des Internet schützt, aber auch den Schutz der Privatsphäre garantiert. Da gibt es noch viel zu tun.
Cornelia Rühlig: Wir kommen nun zu unserem letzten Thema. Max hat sich mit der politischen Biographie von Tom Koenigs beschäftigt. Ihn hat vor allem die Frage interessiert: Was sind die Kontinuitäten in Ihrer Biographie, wo sind eventuell Brüche und wo gibt es inhaltliche Verschiebungen?
Max: Wir haben uns in der Schule mit der 1968er Studentenbewegung beschäftigt, in der auch Sie sich politisch engagierten. Für uns sind Sie damit heute schon Teil des Geschichtsunterrichtes. Was führte bei Ihnen dazu, sich gesellschaftspolitisch so sehr zu engagieren? Gab es dafür ein Schlüsselerlebnis oder war Ihre Politisierung eher ein Prozess?
Tom Koenigs: Ich bin in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen, habe nach der Bundeswehrzeit und dem Volontariat in einer englischen Bank 1966 angefangen zu studieren und habe regelmäßig „Die Welt“ gelesen, die damals schon so rechts war wie sie es heute auch noch ist. Um gesellschaftliche Belange habe ich mich wenig gekümmert.
Schlagartig aber veränderte sich dies am 2. Juni 1967! An diesem Tag ist während einer Demonstration der Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen worden. Das war wie eine Kriegserklärung der Gesellschaft an die Jugend, die damals gegen den Vietnamkrieg engagiert war – und den auch ich heftig kritisierte. An diesem Tag wurde mir klar: Man muss sich politisch engagieren. Ich war empört! Ich hatte die Grundhaltung: Das kann doch nicht sein. Da muss man sich einmischen. Diese Erfahrung haben damals sehr viele in meiner Generation gemacht. Diese reale Erfahrung, dass sie auf uns schießen! Und das auch noch offensichtlich unter dem Beifall der BILD-Zeitung und der scheinbar freien Presse sowie der etablierten Gesellschaft – unter Einschluss meiner eigenen Familie… Das hat mich dazu gebracht zu sagen: Das kann nicht sein. Da muss ich etwas machen!
Cornelia Rühlig: Tom Koenigs, wir danken für Ihre Leidenschaft und Ihr großes Engagement, mit dem Sie auf alle Fragen der Oberstufenschüler eingegangen sind – aus meiner Sicht ein durch und durch vitales Feuerwerk, mit dem Sie uns durch die Themen führten und dabei so unterschiedliche Facetten immer wieder neu und anschaulich beleuchteten.
Herzlichen Dank im Namen des Podiums und auch des Publikums.
Zum Abschluss wollen wir nun noch gemeinsam das bereits angesprochene Buch von Stéphane Hesse an die Jugendlichen sowie Ihre LehrerInnen übergeben — als Dank für die intensive Vorbereitung des heutigen Abends. Sie haben es signiert mit den Worten: „Ja, empört Euch! – Tom Koenigs.“
“Empört Euch!” ist ein kurzer Essay (32 S.) von Stéphane Hessel (geb. 1917 in Berlin), ein ehemaliger französischer Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, Mitverfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, UN-Diplomat und Bürgerrechtsaktivist.
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