Ulrike Holler: Mit dem Gebäude, das nun errichtet werden soll, schaffen wir langfristig einen Ort des Gedenkens und der Mahnung, an das, was hier 1944 geschah. Und gleichzeitig geht es der Margit-Horváth-Stiftung darum, hier einen Studienort für junge Menschen zu schaffen — einen Raum, in dem auch Seminare und Diskussionen zu anderen Beispielen der Diskriminierung von Minderheiten diskutiert werden können und sollen.
Sie hören daher nun — im letzten Teil der Veranstaltung — einige aktuelle Beispiele der Diskriminierung — bei den Referenten stets getragen von der Grundhaltung: “Wir wollen nicht aufgeben. Wir engagieren uns weiter gegen die Verletzung von Menschenrechten und Menschenwürde.
Jeder und jede kann etwas tun.”
Hans-Martin Rommel, Arbeitskreis Gemeinde und Israel, spricht zu aktuellen Formen des Antisemitismus in Deutschland: 70 Jahre nach dem Holocaust zeigt sich weltweit eine Zunahme von Antisemitismus, auch in Deutschland. Wiederholt sich die Geschichte? Aus der Geschichte zu lernen, heißt auch: sich zu engagieren.
Wenn Juden auf der Straße nicht mehr sicher sind und tätlich angegriffen werden, weil sie eine Kippa oder eine Kette mit Davidstern tragen.
Wenn ein Rabbiner auf öffentlicher Straße mit einem Messer niedergestochen wird …
… dann ist es Zeit, die Stimme zu erheben.
Wenn bei Kundgebungen in deutschen Städten Parolen wie „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf’ allein“ zu hören sind …
… dann ist eine rote Linie überschritten.
Wir fordern alle auf, Zivilcourage zu zeigen und die Stimme zu erheben, wenn wir in unserer Umgebung Formen von Antisemitismus und Rassismus wahrnehmen. Wir fragen: Wer oder was schürt den Judenhass? Wie kann dem entgegen gewirkt werden? Was können wir im eigenen Umfeldes dagegen tun? Wir müssen unsere Stimmen erheben und aufklären. Hier in Walldorf haben viele Menschen mitgewirkt, damit die Decke gelüftet wurde, unter der die Vergangenheit begraben und vergessen werden sollte. Dies ist ein Vorbild im Sinne der Aufklärung. Diese Arbeit mit jungen Menschen ist wichtig ebenso wie der Dialog zwischen den Völkern.
Rosemarie Steffens, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Hessen, spricht über die Morde der rechtsextremen NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) und Formen des gesellschaftlichen Antiislamismus: Am 6. April 2006 wurde Halit Yosgat von der rechtsextremen Terrorzelle NSU ermordet. Er war das letzte von zehn Opfern dieser NSU.
Halits Vater sagte einmal in einem Interview:
“ Wir haben uns jahrelang gefragt, was passiert ist und warum. Es gab Zeiten, da haben wir uns nicht auf die Straße getraut. Meine Familie hatte Angst, Arbeitskollegen, irgendwelche Leute auf der Straße haben mich im Vorbeigehen gefragt: „Ismail, wie sieht’s aus, haben sie endlich den Mörder deines Sohnes gefunden? Als ob es eine Nichtigkeit wäre. Als ob sie nicht glaubten, dass es ein Mord war. Ohne Distanz, ohne Respekt. Deutsche, aber auch türkische Zeitungen schrieben, mein Halit hätte mit Heroin gedealt … Das waren Menschen, die ich seit 20 Jahren kenne, die solche Dinge geschrieben haben. Heute entschuldigen sie sich dafür, reichen mir die Hand. Aber dafür kann man sich nicht einfach entschuldigen.“ (ZEIT Nr. 42, Oktober 2012)
Auf die Frage, wie es für ihn war, als er erfuhr, dass Neonazis für diesen Mord verantwortlich gemacht werden, antwortete er:
“Es war der Tag, an dem endlich die Verleumdungen gegen meine Familie aufhörten. Ich war, wenn man das überhaupt so sagen kann, erleichtert, dass es kein Muslim war, der ihn tötete. … Alles andere wird die Untersuchung zeigen,in schā’a llāh (zu dtsch: so Gott will).
Wir warten …“
Doch dieses Warten dauert nun schon sehr lange. — Halit Yosgat wurde am 6. April 2006 in Kassel ermordet, d.h. vor bereits 8 ½ Jahren.
Marcel Bau und Florian Ulrich, Oberstufenschüler der Dreieichschule, Langen, beschäftigten sich im Herbst 2013 im Rahmen eines Podiumsgespräches mit dem Vorsitzenden der Menschenrechtskommission des Deutschen Bundestages, Tom Koenigs, erstmals mit der gesellschaftlichen Diskriminierung von Sinti und Roma. Seither sind sie erschüttert über die breite und scheinbar so selbstverständliche Ablehnung dieser ethnischen Minderheit in unserer Gesellschaft. Marcel zitiert eingangs einige Umfrageergebnisse neuerer Studien: “64 Prozent der Deutschen wollen keine Roma als Nachbarn. Und 44 Prozent meinen, dass Roma zur Kriminalität neigen …” (Aus: Studie “Antiziganismus”, 2013, von Markus End).
Zu solch hohen Zahlen kommt es nur, wenn diese Aussagen von allen (!) gesellschaftlichen Schichten getragen werden. Dies bedeutet für die ethnische Minderheit der Sinti und Roma, dass man ihnen in “der” Gesellschaft in der Regel mit Ablehnung begegnet, dass man möglichst nichts mit ihnen zu tun haben will. Konkret heißt dies: Bei der Arbeits– und Wohnungssuche haben sie keine Chance; Sinti und Roma erfahren in unserem Land Ablehnung — wenn sie ihre ethnische Zugehörigkeit nicht verstecken oder verheimlichen. Ich frage mich daher und ich frage auch Sie:
“Was wäre wohl in den Fußballstadien los, wenn bekannt würde, dass einige der weltbesten Fußballer aus Roma-Familien stammen?
Der bedeutende Berliner Antisemitismusforscher, Wolfgang Benz, sagte im vergangenen Jahr: „Im Fall von Juden ist in den Redaktionen vierfache Vorsicht selbstverständlich.“ - Wir fragen uns: “Warum ist das nicht auch bei Sinti und Roma so?”
Florian Ulrich ergänzt: Dieses fehlende Verständnis begegnet uns auch tagtäglich in der Schule. Wenn wir uns zum Beispiel unser Geschichtsbuch anschauen, finden wir nichts zum Porajmos, d.h. dem Völkermord an den europäischen Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die Verbrechen an den Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg bis heute nicht aufgearbeitet worden sind. Wenn wir vom Holocaust sprechen, denken alle an den Völkermord an den europäischen Juden. Die ebenfalls ermordeten 500.000 Sinti und Roma sind noch immer kaum der Erwähnung wert.
Das müssen wir ändern! Im Umgang mit den Sinti und Roma muss uns dies stets bewusst sein.
Die Margit-Horváth-Stiftung beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Diskriminierung von Sinti und Roma sowohl in der Geschichte wie auch in der Gegenwart. Mit jungen Roma-Studenten aus Bukarest oder auch deutschen Roma wurden zahlreiche Projekte durchgeführt. 2013/2014 drehten wir zusätzlich einen Film über “Roma in Frankfurt”. Dabei lernten wir u.a. auch die 28-jährige Elena kennen. Damals konnte sie nur sehr bruchstückhaft Deutsch; nun, ein halbes Jahr später, spricht sie bereits erstaunlich gut. Dennoch sind die folgenden Sätze von ihr bearbeitet, um eine raschere Verständlichkeit zu erhöhen.
Elena Gunici: Ich bin eine Roma und stamme aus Vâlcea in Rumänien. Ich habe viele Jahre auf der Straße gelebt. im Frankfurter Bahnhofsviertel habe ich auf der Straße geschlafen, mal unter einem Vordach, mal in irgendwelchen Hofeinfahrten — um wenigstens geschützt zu sein vor dem Regen.Tagsüber habe ich gebettelt. Die Leute haben zu mir gesagt: “Warum arbeitest du nicht? Du bist eine junge Frau. Du kannst arbeiten.” Solche Leute haben mir meistens nichts gegeben.
Aber ich hatte keine Chance, Arbeit zu bekommen und eine Wohnung erst recht nicht. Niemals habe ich Sozialhilfe bekommen. Ich war froh, wenn mir die Polizei nicht die Kartons weggenommen hat, auf die ich mich nachts gelegt habe, damit es vom Boden her nicht ganz so kalt ist.
Das habe ich alles bei einem Interview erzählt für den Film “Roma in Frankfurt”. Und durch diesen Film hat sich für mich alles verändert. Sie haben geholfen eine Arbeitsstelle zu bekommen. Ich arbeite jetzt in einer Kita der AWO in Frankfurt und habe mit meinem Mann eine kleine Wohnung. Er geht jetzt zur Schule, lernt richtig zu lesen und zu schreiben und vor allem auch Deutsch.
Ich wünsche so sehr, dass andere Roma auch eine Chance bekommen.
Lili Blau war Kindergärtnerin in der Nähe von Budapest. 20 Jahre war sie, als sie von Ungarn zunächst nach Auschwitz-Birkenau und von dort in das Walldorfer Lager deportiert wurde.
Zum Schluss unserer Veranstaltung spricht ihre Enkelin Katja Schüler:
Liebe Oma,
ich wünschte, ich wäre älter gewesen, als ich jünger war.
Ich wünschte, ich hätte verstanden, was ich heute verstehe.
Deine Güte, Deine Geduld, Deine Ruhe.
Mir das Gefühl zu geben, dass es Niemanden auf der Welt gibt, dem Du lieber zuhörst
oder mit dem Du lieber Karten spielst.
Ich wünschte, ich hätte gesehen, was ich heute sehe.
Ich hätte begriffen, wie besonders Du warst.
Was es bedeutet, nach diesem Alptraum, den Kaffee wieder schmecken zu können,
die Sonne zu spüren, zu arbeiten, zu leben und zu lieben.
Ich habe viel von Dir gelernt.
Und beim Rommé spielen bin ich fast unschlagbar. Ich bewundere Dich und bin dankbar ein Teil von Dir zu sein.”
Ich möchte mich bei allen Engagierten der Margit Horváth Stiftung von ganzem Herzen bedanken. Die Erinnerung birgt für uns alle die Chance zu begreifen, wer wir sind und welche Verantwortung wir tragen.
Amila spielt auf der Klarinette eine Strophe des berühmten Friedensliedes von Pete Seeger “Sag mir, wo die Blumen sind”, anschließend singen alle:
Sag mir, wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben
Sag mir, wo die Blumen sind,
was ist geschehen?
Sag mir, wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehen,
wann wird man je verstehen?
Sag mir, wo die Mädchen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Mädchen sind,
was ist geschehen?
Sag mir, wo die Mädchen sind,
Männer nahmen sie geschwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Sag mir, wo die Gräber sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Gräber sind,
was ist geschehen?
Sag mir, wo die Gräber sind,
Blumen wehen im Sommerwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
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