Mit einem Klezmerstück eröffnet die 17-jährige Oberstufenschülerin Amila Dusse die Veranstaltung in dem Waldgebiet, in dem 1944 ungarisch-jüdische Mädchen und junge Frauen als KZ-Häftlinge der SS ausgesetzt waren. Viele der Mädchen, die damals dort gefangen gehalten wurden, waren so alt wie sie. Amila besucht das Frankfurter Heinrich-von Gagern-Gymnasium. Rechts neben Amila steht die Frankfurter Schauspielerin Barbara Englert; mit ihr hatten wir gemeinsam diese Form der Veranstaltung entwickelt. René Papp ist verantwortlich für die Tontechnik. Über vier im Wald verteilte Mikrophone sprechen zunächst KonfirmandInnen aus Walldorf und Erzhausen die Häftlingsnummern der Mädchen und jungen Frauen des Walldorfer Lagers. Es sind die Nummern, die die ungarischen Jüdinnen in Auschwitz-Birkenau bekommen hatten: 28.190 - 28.207 - 28.208 - 28.227 - 27.037 - 27.044 - 27.128 - 27.155. Ausgewählt haben wir heute Häftlingsnummern von jungen Frauen, die das Walldorfer Lager nicht hatten überleben können. Die beiden Konfirmandengruppen hatten sich zuvor intensiv mit der Geschichte dieses Lagers beschäftigt. Hinter den abstrakten Nummern aber verbergen sich konkrete Menschen.
SchülerInnen der Bertha-von-Suttner-Schule, des Prälat-Diehl-Gymnasiums, Uwe Harnisch und Pfarrer Mühl sprechen nun die Namen von einigen jungen Mädchen und Frauen, die 1944 zunächst in Auschwitz-Birkenau und anschließend hier im Walldorfer Lager inhaftiert waren:
Edith Teller, Lilly Gal, Jolan Speter, Berta Schwarz, Vera Scheiber, Ilona Ausch, Ellen Horn, Piri Kleinmann, Helen Davidovics, Barolta Reinitz, Janka Samuel … Ausgewählt hatten wir Namen von jungen Frauen, die im Walldorfer Lager ermordet wurden.
Anschließend zitiert Ulrike Holler aus der Autobiographie von Therese Müller, einer Überlebenden des Walldorfer Lagers: „Meine Enkelin setzte sich einmal zu mir auf die Gartenbank und sagte: „Sag mir, ist es wahr, dass du im Gefängnis warst?“ Diese Worte erschüttern mich zutiefst. Was kann man darauf antworten? Ich sage, dass ich niemals in einem Gefängnis saß, in dem Kriminelle waren. Aber was soll ich dem Kind noch sagen? Wie könnte ich dem Kind erklären, dass es auch eine Bestrafung ohne Grund gibt? Dass wir zum Tode verurteilt wurden, ohne dass wir schuldig waren. Es war genug, dass wir zu einer Minderheit oder zu einer bestimmten Religion gehörten.“
Cornelia Rühlig schließt daran die Frage an:
Und woran erinnern sich die Frauen, die hier im Walldorfer Lager inhaftiert waren?
Patrick Guldan, Schüler der Prälat-Diehl-Schule, Groß-Gerau, liest eine der Zeitzeugenerinnerungen des Walldorfer Lagers: „Wir kamen in ein völlig leeres Lager. Wenn ich es mit den Kolossen Auschwitz und Ravensbrück vergleiche, erscheint es mir klein. Ich denke, das Lager bestand aus etwa 5 Holzbaracken. Ich lag auf Block 5. Wir schliefen auf drei Etagen hohen Pritschen. An der Seite, wo der Lagereingang war, führte ein asphaltierter Weg entlang. Das Lager war umgeben von einem großen Stacheldrahtzaun.“
Lea Köhler, Schülerin der Ricarda-Huch-Schule, zitiert eine Überlebende des Walldorfer Lagers: „Wir hatten alle nur ein dünnes Kleid, keine Strümpfe und viele von uns hatten auch keine Schuhe. Die Kälte war das Schlimmste in dem Lager. Wir haben so gefroren, dass wir uns die leeren Zementtüten um die Füße gewickelt haben und wir haben sie unter unsere dünnen Kleider gestopft, um uns gegen die Kälte zu schützen. Als der Lagerführer davon erfuhr, zog er uns sofort das Abendbrot ab. Der Lagerführer, den die Aufseherinnen immer als „Chef“ ansprachen, war ein SS-Funktionär von ungefähr 34 Jahren … Er war sehr streng, behandelte uns grausam und schlug bei jeder Gelegenheit. SS-Männer haben das Lager von außen bewacht. Im Lager waren SS-Frauen eingesetzt. Auch die haben uns viel geschlagen …“
Lisa Schramm, Schülerin der Ricarda-Huch-Schule, liest eine weitere Aussage einer ehemals hier im Lager Inhaftierten: „Unter dem Küchenbau war ein Keller. Der Lagerführer befahl, in diesem Keller Häftlinge einzusperren. Als Grund genügte dafür, dass eine der Frauen nicht stramm in Reih und Glied durch den Lagereingang marschiert war. Oft hörten wir aus dem Keller Schreie der gemarterten Frauen. Einige der im Keller eingesperrten Frauen kamen von dort nicht mehr zu uns zurück … Der Lagerführer hatte immer eine Peitsche in der Hand. Er schlug mit der Peitsche, manchmal auch mit der Hand … Manchmal hat er auch einer von uns befohlen, dass sie eine andere schlagen musste. Das war das schlimmste für uns …“
Nathaly von der Heydt, Schülerin der Ricarda-Huch-Schule, zitiert eine Überlebende: „Wir mussten für die Flugzeuge eine Rollbahn bauen. Am Anfang mussten wir Bäume wegtragen und mit der Spitzhacke Wurzelstöcke aus dem Boden holen. Große Zementsäcke haben wir geschleppt oder auch Mörtel gemischt. Das war schwere Männerarbeit! Und die Verpflegung, die wir bekamen, war sehr, sehr spärlich. Morgens einen Kaffee und abends meist eine dünne Suppe. Beim Essenverteilen schlug der Lagerführer rücksichtslos. Mich hat er auch mal mit anderen Frauen zusammen in den Keller unter der Küchenbaracke geschleppt. Dort hat er seinen Koppel gelöst und damit geschlagen. Wenn eine der Frauen ohnmächtig wurde, musste eine andere, die noch nicht an der Reihe war, die Bewusstlose mit Wasser übergießen, dann schlug er die Übergossene weiter …“
Ulrike Holler fragt:
Und woran erinnern sich die Walldorfer?
Wilhelm Jourdan: Ich bin in Walldorf aufgewachsen. Als die Frauen hier waren, wurde es Herbst. Das war die Zeit, in der ich öfters mit der Mutter in den Wald bin, um Holz zu holen. Wir sind oft Richtung Okrifteler Straße. Wo früher der Radarturm stand, ging eine Schneise in den Wald rein. Dort habe ich gesehen, wie die Frauen an der Rollbahn gearbeitet haben. Junge Frauen waren es und Mädchen, kahlköpfig — sie waren alle geschoren. Ihre Haare haben gerade angefangen, wieder ein bisschen nachzuwachsen. Sie hatten bräunliche oder zumindest dunklere Kleidung an. Manche hatten eine Kordel um den Bauch; da hatten sie einen Teller aus Aluminium angebunden. Sie waren schmal. Sie standen in kleineren Gruppen zusammen – immer so sechs/ sieben/acht junge Frauen. Ich konnte es nicht so genau sehen, ich war ca. 40–50 m entfernt. Aber ich meine, sie hätten Ausschachtungsarbeiten gemacht. Ich war damals acht/neun Jahre alt. Dieses Bild – so schmale junge Mädchen mit den kahl geschorenen Köpfen, das vergisst man nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mit der Mutter darüber gesprochen hätte. Ich war ja noch ein Bub damals. Aber ich glaube, die Mutter wäre sicher nicht ganz nahe dahin gegangen und hätte direkt dort in der Nähe das Holz gesammelt. Das hätte sie nicht gemacht. Das spürt man schon auch als Kind.
Lorenz Pons: Ich bin in Walldorf aufgewachsen und war im Herbst 1944 mit dem Rad unterwegs,um Fallobst zu holen. An der Kreuzung Okrifteler Straße/ Hohewart-Schneise stand ein Wachposten, den ich passierte. Wegen dem sandigen Boden musste ich dort das Fahrrad schieben. Am Lenker hatte ich zwei Taschen voll mit Äpfeln. Damals kam ich an zwei Häftlingsfrauen vorbei. Sie mussten von den gefällten Bäumen die Äste abschneiden; andere haben die schweren Stämme forttragen müssen. Die Frauen streckten mir bettelnd ihre Hände hin. Ich gab ihnen ein paar Äpfel, woraufhin andere Frauen auch zu mir wollten. Das sah der Wachmann und schrie mich an: Ich soll schnell verschwinden, sonst könnte ich noch was erleben. Da warf ich noch ein paar Äpfel auf den Boden und fuhr schnell weiter. Ich hatte Angst, ich war damals erst 13 Jahre alt. Und meine Familie war bei den Nazis nicht beliebt, obwohl vier meiner Brüder bei den Soldaten waren und zwei nicht mehr heimkehrten.
Amila spielt auf der Klarinette ein weiteres Klezmerstück.
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