Historische und aktuelle Fragen zu Aspekten der Menschenrechte — ein Podiumsgespräch mit Tom Koenigs
3. Themenblock: Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte und die Frage nach Tom Koenigs‘ Wahrnehmung von “den” Taliban?
Die in der UN-Menschenrechtserklärung formulierte Religionsfreiheit wurde eben angesprochen. Demgegenüber aber gibt es seit 1990 auch die “Kairoer Erklärung der Menschenrechte.” Darin haben 56 z.T. sehr bedeutende arabische Staaten ausdrücklich eine enge Verknüpfung formuliert zwischen Politik, Recht und Religion. In der Präambel der Kairoer Erklärung heißt es: “… in dem Wunsch, zu den Bemühungen der Menschheit um die Festlegung von Menschenrechten beizutragen, die den Menschen vor Ausbeutung und Verfolgung zu schützen und seine Freiheit und sein Recht auf ein würdiges Leben im Einklang mit der islamischen Scharia bestätigen…“ Im folgenden Absatz heißt es: “… in der Überzeugung, dass die Menschheit, die in der Wissenschaft von den materiellen Dingen ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, noch immer dringend den Glauben als Träger der Zivilisation benötigt…”
Tom Koenigs: Die Kairoer Erklärung ist aus meiner Sicht eine Kampferklärung. Und es ist nicht verwunderlich, dass es sie gibt. Natürlich wird immer wieder um die Menschenrechte gekämpft – und zwar von allen Seiten. Schari’a (das religiöse Recht des Islam) heißt zunächst erst einmal nur: Gesetz. Und zu diesem Gesetz gab und gibt es immer liberalere Auslegungen und auch strengere. Im islamischen Recht und in der Religionslehre gibt es sehr unterschiedliche Ansätze: fundamentalistische, aber auch liberale. So hatte ich z.B. in Afghanistan in meiner Abteilung für Menschenrechtsfragen auch Schari’a-Rechtsanwälte. Es war für mich hochinteressant zu sehen, wo diese mit unserer Rechtsauffassung übereinstimmten und wo nicht. Ich gebe Ihnen dafür ein Beispiel — ein Beispiel, bei dem ich gerade mit unserer westlichen Rechtspflege sehr unzufrieden bin: In Strafprozessen kommen bei uns die Opfer kaum mehr vor; sie existieren meist nur irgendwo im Hintergrund. Dies ist z.B. in der Schari’a völlig anders! Dort gibt es den Täter-Opfer-Ausgleich wesentlich stärker… Grundsätzlich sollte jedem klar sein: Es gibt natürlich auch unter den Muslimen Menschenrechtsaktivisten, die es schwer haben. Und ebenso gibt es auch unter den Christen Fundamentalisten — wie auch bei den Juden. Da muss man innerhalb jeder Religion wirklich immer etwas genauer hinschauen…
Paul: „Die“ Taliban sind in unseren Medien und damit auch in der breiten Öffentlichkeit so etwas wie der Inbegriff des Bösen. Ist dem wirklich so? Sie schreiben z.B. in Ihrem Buch, dass die Taliban eine Bewegung von unten und (deshalb auch heute noch) weniger korrupt sind als die Herrschenden im Staat. Im Verlauf des heutigen Abends haben Sie betont, wie wichtig es aus Ihrer Sicht ist, nicht nur übereinander, sondern miteinander zu sprechen. Was heißt das in Bezug auf die Taliban? Haben Sie mit ihnen gesprochen? Wie ist Ihre Einschätzung? Sollte man sie vielleicht sogar in Verhandlungen einbeziehen? Ich habe den Eindruck, für Sie sind Taliban nicht einfach die Verkörperung “des” Bösen? Was sind Ihre Eindrücke von den Verhältnissen in Afghanistan?
Tom Koenigs: Afghanistan ist nach wie vor in der Auseinandersetzung zwischen zwei Extremen – dem englischen liberalen Lawyer, der religiös keinerlei Ambitionen hat und dem sog. “Gottes-Staatler”. Bei den Taliban gibt es schwerpunktmäßig letztere Tendenz — und dies immer mehr. Aber es gibt auch sehr liberale Taliban! Sie sind allerdings mit dem jetzigen Regime nicht zufrieden oder sie kritisieren, dass fremde Truppen im Land sind. Das ist ihnen ein wichtiges Thema. Grundsätzlich muss klar sein: Die Taliban sind eine Bewegung. Das ist keine Partei und es ist auch kein Heer.
4. Thema: Bürgerkrieg in Syrien – Was heißt hier für uns Wahrung der universellen Menschenrechte? Was bedeutet die Souveränität eines Staates?
Zunächst möchte ich an Constantins Frage erinnern: “Wie kann man es schaffen, die Menschen politisch zu sensibilisieren?” Darauf antworteten Sie vorhin: Es geht nicht darum, irgendjemanden “zu sensibilisieren”, sondern es ist wichtig, dass wir mit (!) den Menschen arbeiten, um die es jeweils geht. In vielen Fällen ist dies gewiss richtig und wichtig.Doch was heißt dies z.B. in Bezug auf Syrien und unser Verhältnis zu dem, was dort zurzeit Im Bürgerkrieg geschieht? Jeden Abend sehen wir schreckliche Bilder im Fernsehen: Täglich werden Menschen getötet oder sie verelenden inmitten der Trümmerlandschaften. Sie haben vorhin bereits selbst die Größenordnungen genannt: Bisher sind es ca. 120.000 Tote und 6 Millionen Flüchtlinge. Im Libanon sind inzwischen bereits über eine Million syrische Flüchtlinge. Dieses Land hat selbst nur 4 Mio Einwohner d.h. ein ¼ der Bevölkerung ist nun noch als Flüchtling hinzugekommen.
Und wir sehen all dem tagtäglich zu. Wir schauen uns diese Ereignisse gemütlich vom Sofa aus an. Und wenn unsere Regierung entscheidet, dass Deutschland 5.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen wird, gibt es in der Öffentlichkeit sofort einen großen Aufschrei. Bislang sind noch sind nicht einmal 1.000 syrische Flüchtlinge hier… Ist das nicht etwas absurd und Constantins Frage doch sehr berechtigt?
Tom Koenigs: Ja, es stimmt: Wir sitzen zu Hause und sehen das. — Was können wir tun? Zunächst erst einmal hilft es – auch wenn man selbst nichts machen kann – sich einfach die Frage zu stellen: “Auf welcher Seite wollen wir stehen?” – Und es gibt genügend Opfer, auf deren Seite wir stehen können.
Bei der Flüchtlingsfrage zum Beispiel: Da haben wir eine Verantwortung! Da können wir uns nicht nur einsetzen, da müssen wir uns natürlich dafür einsetzen, dass es mehr als 5.000 werden! Das Argument, sie ließen sich nicht integrieren, ist lächerlich.Wir brauchen Immigration — und wir können Immigration. Diejenigen, die aus Syrien kommen, sind meist gut ausgebildet. Wir können sie gut gebrauchen. Mit der Frage der Flüchtlinge anders umzugehen, wäre gut. Im letzten Jahr (2012) betrug die Einwanderung nach Deutschland insgesamt 421.000 Menschen. Doch davon haben nur 30.000 Menschen ein Aufenthaltsrecht bekommen. Und darüber regen sich heute viele auf – über 30.000 Menschen. Das ist absurd!
Samuel: Hier möchte ich gerne gleich eine Frage anschließen. Sie bezieht sich auf die Situation in Syrien. Ich argumentiere hier mit Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Dies trifft für Syrien im Augenblick keineswegs zu. Dieses Menschenrecht wird dort fortwährend verletzt. Was heißt das nun für uns? Können wir einfach sagen: Syrien ist ein souveräner Staat, also dürfen wir von außen nicht eingreifen? Demgegenüber aber stehen die Menschenrechte, zu deren Beachtung und Einhaltung wir uns verpflichtet haben. Ab wann können oder sollen wir eingreifen? In welcher Form? Was legitimiert oder erfordert aus Ihrer Sicht sogar ein militärisches Eingreifen? Wann sind die Rechte der Menschen in einem Staat wichtiger als die Souveränität dieses Staates?
Tom Koenigs: Natürlich muss der syrische Staat „Leben, Freiheit und Sicherheit“ seiner Bürger schützen. Aber er tut es nicht. Und er kann es auch nicht, ganz offensichtlich.Du hast ganz recht: Die Frage ist: “Was passiert, wenn ein Staat seine Bürger nicht mehr vor massenhaften Menschenrechtsverletzungen schützt? Muss da nicht die internationale Gemeinschaft eintreten?” — Ja, die internationale Gemeinschaft hat sich verpflichtet in solchen Fällen unter Umständen einzugreifen. Die Umstände sind aber an einem Punkt deutlich definiert: Das Eingreifen darf den Schaden nicht größer machen und das Eingreifen muss auch geeignet sind, Erfolg zu versprechen…
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